Um einem unsichtbar wirkenden Stadtteil ein Gesicht und eine Stimme zu geben, wird eine lange leerstehende Tankstelle zwischen Hauptbahnhof und Straßenstrich zum partizipativen Raum für Kunst, Kultur und Begegnung. Eine Transformation, die nachhaltige Impulse setzen will.
Geplatzter Putz, zerschlagene Fenster, gerissener Asphalt – der Westen unserer Stadt ist nicht gerade ansehnlich. Vornehmlich zeichnen Industrie und Gewerbe beziehungsweise deren Überreste das Erscheinungsbild. Kultur sowie öffentliches Leben spielen sich hier nur selten ab.
Erste Aufbruchsvisionen für den Teil der Stadt, der samt seiner hier lebenden Menschen in der Wahrnehmung und Rezeption Darmstadts eher unsichtbar ist, löste die Idee des „Kreativquartiers“ aus. Irgendwo zwischen Carl-Schenck-Ring als Grenze im Norden und der Rheinstraße im Süden, hätte sich dieses etablieren sollen. Bisher bleibt das Ganze jedoch wenig greifbar, geht über bereits bestehende Fixpunkte – Goebel-Gelände, Raum 103 Studios, Atelier Vera Röhm … – nicht hinaus und nimmt zudem die teils prekären Realitäten derer, die hier wohnen und leben, nicht in den Blick.
Mit der offiziellen Eröffnung Anfang Juni ist jetzt jedoch das „Amt für künstlerische Vermessung – an der Tanke“ (AfkV) Im Niederfeld 8 eingezogen und bringt sich über die Dauer von drei Monaten als Raum für Kultur, Kunst und Partizipation in Stellung. Das Projekt bündelt eine Vielzahl von Akteuren: Diese Kultur e. V., der gemeinnützige Ableger der Gestaltungsagentur Diese Studio, das Schuldruckzentrum Darmstadt e. V. (die pädagogisch arbeitende Werkstatt hat sich bereits 2020 im hinteren Souterrain der alten Tankstelle eingerichtet), die im Hinterhof angrenzenden Tag & Nacht Studios, die vor Ort agierende „Stadtteilwerkstatt PaMo“ (in gemeinsamer Trägerschaft der Diakonie und der Caritas) sowie Live at Bedroomdisco e. V. (als Profis für Veranstaltungen in Off-Locations im Boot). Praktischen Support gibt’s unter anderem noch von Bodo Schäfer, dessen Unternehmen BSP Messebau die Nutzung und Vermietung des Geländes ermöglicht.
Die Suche nach dem Kiez-Charakter
Gemeinsam sollen Menschen aus dem Pallaswiesen- und Mornewegviertel (PaMo) angesprochen, in Dialog und Kulturangebote eingebunden werden. Ziel ist, „Austausch und Berührungspunkte zwischen Hoch-, Pop- und Subkultur sowie zwischen den Menschen dieser Stadt und ihren individuellen Sichtweisen und Geschichten herzustellen“. So thront dort, wo ehemals Zapfsäulen aus dem Boden ragten, jetzt eine große, halbrunde Bühne in dunklem Blau. Als kleine Zentrale ist im alten Kassenhäuschen die „Amtsleitung“ zu finden. Von hier aus findet derzeit die „Vermessung“ des Stadtteils statt, wie es im spielerisch-behördlichen Jargon des Projektes heißt. Gemeint ist ein künstlerisch-partizipatives Entdecken des Quartiers, dem bisher sowohl Kiez-Charakter als auch Annehmlichkeiten des städtischen Lebens und Teilhabechancen an diesem fehlen.
Erste Ergebnisse dieses Vorhabens liegen bereits vor. Zum Projektstart wurden drei je einmonatige Residenzen für Kunstschaffende ausgelobt, um das Geschehen und die Gegend rund um die Tanke auch mittels bildender Kunst zu erfassen. So fotografierte im Juni Simon Freund 100 Personen aus dem industriell-gewerblich geprägten Quartier. Die Serie „Selbstportrait“ setzt dabei Uniformierung und Individualität in Spannung zueinander. Aktuell ist Sarah Metz auf ihrer Spurensuche anzutreffen. Sie verfolgt einen archäologischen Ansatz. Über materielle Fundstücke (achtlos Weggeworfenes, Verlorenes, Objekte …) tritt sie in Dialog mit der Nachbarschaft, um Persönlichkeiten und Lebensort zu kartografieren. Neugierig? Die Künstlerin aus Kassel und auch Johannes Heynold, der im August ein kollektiv geschriebenes Theaterstück schaffen will, können fast jederzeit in ihrem Büro, der kleinen Amtsstube, besucht werden.
Von der massiven Holzwand, die an der Grundstücksgrenze errichtet wurde, dürft Ihr Euch dabei nicht abschrecken lassen. Die Barriere ist Konsequenz der pandemischen Gegenwart. „Wenn Einlassbeschränkungen und Schutzmaßnahmen derzeit Teil von Kultur sind, dann gestalten wir das wenigstens lustvoll“, erklärt Jurek Werth von Diese Kultur. Gebaut aus recyceltem Material (darunter Reste aus dem Jubiläum der Darmstädter Sezession 2019) dient die Mauer mit Neugier weckenden Blick-Luken auch als Straßengalerie und offene Fläche zur freien Gestaltung. „Eignet sie Euch an!“, postuliert Matthias Heinrichs, Vorsitzender des Schuldruckzentrums.
Partizipation als Prämisse
Trotz gegenwärtiger Einschränkungen sollen so viele Menschen wie möglich – vornehmlich aus dem Quartier – eingebunden werden, um „diesen Ort zu prägen“, so Anne Wenninger vom Schuldruckzentrum. Gemeinsam mit Frederick Rühl und Tobias Schrenk vom Bedroomdisco-Kollektiv verantwortet sie die Veranstaltungen. Die freie Künstlerin lässt wissen: „Das Programm ist bunt gemischt, für alle Altersklassen, kostenfrei und niedrigschwellig.“ Im Eröffnungsmonat vereinte die Pop-up-Spielstätte Theater, eine Lesung von Antje Herden, Konzerte, ein offenes Format für Kinder und Familien sowie einen HipHop-Workshop unter Leitung von zwei im Viertel aufgewachsenen Rap-Fans.
„Haroon und Ahmed studieren, unterstützen uns schon länger in der Hausaufgabenhilfe und hatten direkt Lust, für ihre Leute im Viertel was zu starten“, freut sich Jana Freund von der Darmstädter Caritas über das musikalische Engagement der beiden. Als Quartiersmanagerin des Pallaswiesen- und Mornewegviertels kennt sie den Stadtteil und die 5.000 Menschen, die hier leben, gut. Die Sozialstruktur ist von ökonomisch benachteiligten Milieus geprägt. Eine Begleiterscheinung vom Leben an den Rändern von Stadt und Gesellschaft, in einem Wohngebiet, dem Vereinsstrukturen und Begegnungsorte fehlen: „Mit Kunst und Kultur gibt es hier selten Berührung.“ Mit dem Geschehen am AfkV seien sie und ihre Kollegin Ilona Zettel von der Diakonie daher auf offene Ohren gestoßen: „Besonders die Kinder zwischen zehn und 13 Jahren sind super motiviert und wollen mitmachen.“ Das temporär konzipierte Amt füllt mit seinem facettenreichen und offen gedachten Programm sowie Schnittstellen zu Lebenswirklichkeiten seiner Umgebung offenbar eine Lücke.
An die 20 soziokulturellen Veranstaltungen, die für Juli und August geplant sind, schließen sich so unmittelbar verschiedensten Perspektiven an. Was bleibt vom Kultur-Katalysator, der Erkundung und Erfassung von Eigenheiten, Merkmalen und Mentalitäten im PaMo? Anne Wenninger hofft, Kinder und Jugendliche aus dem Viertel auch künftig eng in die handwerklich-pädagogische Arbeit ihres Vereins einbinden zu können. Als Schuldruckzentrum wolle man im Anschluss auch die Front der Tankstelle als Atelier und Ausstellungsfläche nutzen – wenn möglich sogar einen fest etablierten Ort für Soziales und Kultur schaffen. Im Viertel, vom Viertel, für das Viertel – und im Einklang mit den Fördermaßnahmen „Sozialer Zusammenhalt“ zur Stadtteilentwicklung der Stadt Darmstadt.
„Wir wollen, dass nach August etwas bleibt“, betont auch Jurek Werth und skizziert gleichzeitig einen weiterführenden Gedanken. Wenn an der Tanke ein lebhafter Anker gesetzt worden ist, könne er sich vorstellen, dass das Amt weiterzieht – um mittels künstlerischer Vermessung auch in weiteren Ecken Darmstadts als Impulsgeber für urbanes Zusammenleben zu wirken.
Volles Programm an der Tanke
Lesungen, Konzerte, Workshops, Ausstellungen – eine Übersicht samt tagesaktueller Infos zu den vielen Veranstaltungen im Juli und August findet Ihr online auf der Webseite des AfkV. Rein- und vorbeischauen lohnt sich!
AfkV – an der Tanke | Niederfeldweg 8 | im Juli und August | Eintritt frei (Spenden erwünscht)