Foto (links im Bild: Melanie, rechts: Safa): Nouki Ehlers, nouki.co

Kulturelle Vielfalt gehört zu Darmstadt wie der Jugendstil und DJ Kai in der Kronedisko. Laut Bevölkerungsstatistik 2019 haben 21,1 Prozent der in Darmstadt lebenden Menschen eine nichtdeutsche Nationalität. Das P möchte wissen, wie Menschen, die aus unterschiedlichen Gründen nach Darmstadt gefunden haben, diese Stadt erleben. Also reden wir über Integration in Darmstadt – mit den Expert:innen für diese Thematik. Denjenigen, die schon lange ihr Leben „hier im Ausland“ navigieren, sich anpassen und Wege finden, ihren Horizont zu erweitern, um an mehreren Orten gleichzeitig dazuzugehören.

 

Folge 4: Safa aus Afghanistan

Ich bekam von der P-Redaktion die Anregung, in meinen Gesprächen über das Ausländer-Dasein in Darmstadt bitte nicht davor zu scheuen, auch kritische Aspekte dieser vielfältigen Erfahrungen anzureißen. Soll doch kein Problem sein, dachte ich. Schließlich finde ich selbst hier genug zu meckern.

Doch was meine bisherigen Gesprächspartner verbindet, ist eine beinahe hartnäckige Lebensfreude. Indem sie auch über kritische Erfahrungen reden, schaffen sie es, eigene, grundsätzlich positive Narrative für sich daraus zu erschaffen. Ich glaube, diese robuste Fähigkeit, Abstand zu nehmen und sein Leben in etwas Größeres einzuordnen, ist eins der vielen Geschenke von Migrationserfahrungen.

Safa [Name von der Redaktion geändert] ist ein weiteres Beispiel. Ich lernte den stylischen 21-Jährigen auf einer Veranstaltung zu Toleranz kennen, wo er seine Erfahrung als „Rainbow Refugee“ schilderte. Mit umwerfendem Charisma und jugendlichem Charme erzählt Safa von seiner Reise, die er bereits mit 14 Jahren antrat und die ihn nicht nur nach Darmstadt geführt hat, sondern zu mehr Selbsterkenntnis und einer Lebensweisheit, die weit über sein Alter hinausreicht.

 

Du hast erzählt, dass Du 2015 nach Deutschland gekommen bist. Damals warst Du noch sehr jung …

Genau. Meine Familie und ich haben illegal im Iran gelebt. Ich wollte immer was lernen, irgendwas aus meinem Leben machen, und ich wusste, dass das im Iran für mich nicht möglich sein wird. Dann ging es 2015 los, dass immer mehr Leute nach Europa aufgebrochen sind. Ich habe als 14-jähriger Junge meine Eltern gefragt: „Wie sieht’s aus? Ich möchte auch dort hingehen, seid Ihr dabei?“ Ihre Reaktion war: „Ja, ja, okay, super“ – die dachten, das wäre nur eine Phase und es geht zu Ende.

Klar, Du warst ja noch ein kleiner Junge …

Genau. Aber ich habe ständig gefragt: „Wie sieht’s aus?“ Und sie meinten immer: „Lass uns noch warten.“ Irgendwann hat’s mir gereicht und ich habe gesagt: „Hey, ich glaube, Ihr nehmt das nicht ernst. Ich möchte meine Zukunft aufbauen und ich möchte dort hingehen. Wenn ich hierbleibe, wird aus meiner Zukunft nichts – und Ihr seid schuld daran.“ Ich kann es immer noch nicht glauben, dass ich mit meinen Eltern so geredet habe. Aber ich konnte sie überzeugen. Und ja, damit ging es für mich los.

Du hast Deine Zukunft voll in die Hand genommen, krass. Und seitdem hat sich für Dich wohl sehr viel geändert. Für Dich war die Begegnung mit dem Queeren Zentrum Darmstadt ein wichtiger Punkt, richtig?

Das Queere Zentrum Darmstadt – wirklich, die sind super toll! Wo ich herkomme, ist Homosexualität tabu – man kann das einfach nicht sein. Ein großes Thema für mich war, dass ich mich selbst deswegen nicht akzeptieren konnte. Ich war irgendwann während der Ausbildung bei einer Lehrerin im Büro und hatte einen Nervenzusammenbruch. Ich habe ihr dann alles erzählt. Sie hat super reagiert und mir eine Nummer vom Queeren Zentrum herausgesucht. Ich habe denen eine Nachricht geschrieben und sofort eine Antwort erhalten. Das war eine riesengroße Hilfe. Dass sie einfach da waren. Dass sie mit mir gesprochen haben. Dass sie mir das Gefühl gegeben haben, dass ich nicht allein bin, dass es viele Menschen wie mich gibt. Die Person, die mich betreut hat, ist Soziologe und es war eine große Hilfe, wie er die Aspekte meiner Herkunft aufgegriffen hat. Am Anfang habe ich diese Gespräche gebraucht und bin regelmäßig hingegangen. Und irgendwann habe ich mich akzeptieren können, wie ich bin.

Würdest Du sagen, Du hast viele kulturelle Aspekte hier angenommen?

Meine Familie und Freunde sagen mir, dass ich mich sehr geändert habe. Wenn man irgendwo hingeht und lebt, zum Beispiel in Deutschland, dann bekommt man die Kultur, wie die Menschen sich benehmen, das nimmt man einfach mit. Und das beeinflusst einen. Wie ich rede, wie ich mich verhalte und generell meine Werte und Normen – alles ist jetzt ganz anders. Ich habe mich mehr an die deutsche beziehungsweise an die westliche Kultur angepasst. Die Akzeptanz gegenüber anderen Ethnien und Kulturen zum Beispiel. Ich glaube durch die Meinungsfreiheit hier entsteht eine Offenheit. Bei uns kann man sich das nicht so stark erlauben.

Hast Du also das Gefühl, dass Du so richtig „integriert“ bist? Hast Du manchmal noch Außenseitermomente?

Ich hab’s einfach akzeptiert. Ich merke ab und zu, dass ich ausgeschlossen bin in manchen Sachen. Aber das liegt nicht an den Menschen oder an der Kultur, sondern es geht darum, dass ich als Person nicht hier geboren und aufgewachsen bin. Es interessieren mich teilweise einfach andere Themen. Zum Beispiel, wenn ich mich mit anderen Leuten in meinem Alter treffe, die aus Deutschland sind: Wir haben halt verschiedene Vorstellungen, Einstellungen und Themen, worüber wir gern reden. Da komme ich mit etwas mehr erwachsenen Menschen besser klar!

Vielleicht, weil Du einfach bis jetzt mehr erlebt hast als die meisten Leute in Deinem Alter?

Das kann auch sein. Aber im Großen und Ganzen, wenn ich zu Hause bin und einfach in meinem Bett liege, da denke ich mir: „Ich bin so froh, hier zu sein.“ Ich bin so froh, dass ich nicht irgendwo anders bin. Dass ich meine eigene Wohnung habe. Dass es niemandem etwas angeht, was ich mache. Niemand mischt sich in mein Leben ein, aber wenn ich Hilfe brauche und das äußere, dann gibt es immer Menschen, die helfen. Das finde ich total super. Es kann ruhig so bleiben. Die beste Sache, die in meinem Leben passieren konnte, war, dass ich nach Deutschland gekommen bin – nach Darmstadt.

 

Darmstadts kulturelle Vielfalt in Gesprächen

Manchmal hat man an einem Ort direkt das Gefühl, dass man willkommen ist. So war es für mich, als ich 2010 aus Kanada für ein Auslandssemester nach Darmstadt kam. Aus diesem einen Semester ist ein Studium geworden – und mittlerweile ist Darmstadt mein Zuhause. Als Ausländerin will ich mich in meiner Stadt zugehörig fühlen, unabhängig davon, wo ich herkomme oder wie lange ich vielleicht bleiben werde. Als Leiterin von Integrationskursen frage ich mich, was es eigentlich heißt, integriert zu sein. Integration ist schließlich kein Ziel, das erreicht werden kann, sondern vielmehr ein Prozess – ein Prozess in Richtung einer vielfältigeren, multikulturellen Gesellschaft.

melanielipinski.com