Recording, Mixing und Mastering: Tonstudios sind wesentlicher Bestandteil der Musikbranche und unabdingbar für eine Kulturszene, die über Proberaumaufnahmen hinausgehen möchte. In der Artikelserie „Klangspuren“ stellen wir Euch regelmäßig Tonstudios aus der Darmstädter Musikszene vor – denn davon gibt es in unserer Stadt eine ganze Menge. Die sechste Folge blickt auf eine Kulturinstitution, von der wohl die meisten musikinteressierten Heiner:innen schon einmal gehört haben: die Tag & Nacht Studios.
Das Tag & Nacht Kollektiv wirkt in der Mornewegstraße nahe des Hauptbahnhofs und liegt damit im Darmstädter Tonstudio-Brennpunkt direkt zwischen Ironbar Studios, Lofthaus Studios und Lui Hill Studio auf der einen und Raum 103 und Nektarium Music auf der anderen Seite (wir berichteten). Neben Musikproduktionen gibt es in dem über 450 Quadratmeter großen Gebäudekomplex auch Proberäume und Live-Events – dazu kommen eine weitere Etage mit der hauseigenen Medienproduktionsfirma Tag & Nacht Media sowie Keller- und externe Lagerräume. „Wir sind nicht das klassische Tonstudio mit Outboard-Metern“, scherzt Stephan Böhl, einer von sieben Gründungsmitgliedern. Vielmehr versteht sich das Kollektiv als kreativer Freiraum und lebendiges Künstlernetzwerk.
Industriecharm, der begeistert
Als Kreativort entdeckt wurde der erste Gebäudeflügel Ende 2011 von den befreundeten Darmstädter Bands Wortblind und The Sound Section. Über Jahre hatte man sich provisorische Proberäume in Kellern oder Vereinsheimen geteilt, wo „du eigentlich schon wieder mit dem Abbau anfangen konntest, wenn du endlich alles fertig aufgebaut hattest“, erinnert sich Stephan. Nach einer Zeit in einem Lagerraum unter dem Luisencenter „aus Beton und ohne Fenster oder Toilette“ ergatterte man schließlich einen kleinen Platz in einer Halle am Donnersbergring. Dort mussten die beiden Bands aber schließlich einem Fitnessstudio weichen. „Das Goebel-Gelände kannten wir, weil wir mit Wortblind damals bei einem Bandcontest in Weiterstadt eine Studiosession bei Gyso Hilger [Nektarium Music, siehe „Klangspuren“ Folge 1] gewonnen hatten“, erklärt Stephan weiter. Sie seien begeistert gewesen vom Gelände mit Industriecharme, allerdings gab es dort keine freien Räumlichkeiten mehr. Über den Vermieter hätten sie dann von dem etwas weiter östlich gelegenen Hof erfahren.
Im Dezember 2011 wurde mit dem Ausbau der ersten Räume begonnen: „Im linken Gebäudeflügel, wo alles anfing, war keine Heizung drin, es gab keinen Strom mehr. Wir haben alles selber gemacht“, erzählt Stephan. „Am Anfang hatten wir nur einen Holzkamin, um die Räume zu beheizen. Da gab es dann einen Schichtplan übers Wochenende zum Nachlegen, damit der Kamin nicht ausging.“ Schon bestehende Raumstrukturen wurden mit Trockenbau ausgebaut; für den Regieraum wurde ein Fenster eingebrochen. Wer heute diesen Teil der Tag & Nacht Studios betritt, gelangt zuerst in einen Barbereich mit Sofas. „Hier kann man zusammenkommen und Pause machen. Die Getränke sind auf Selbsterhalt, bezahlt wird auf Vertrauensbasis.“ Das Herzstück des Raumes befindet sich jedoch dahinter. Nach einem kleinen Flur mit drei einzelnen Proberäumen gelangt man in eine circa 50 Quadratmeter große Freifläche mit angrenzendem Regie-/Aufnahmeraum.
Freiräume für einen coolen Sound
Hier finden neben klassischen Musikproduktionen und Sprechaufnahmen auch Videodrehs und Konzerte statt. „Letzten Winter habe ich auch zwei Rap-Workshops in Zusammenarbeit mit dem SKA [Sozialkritischer Arbeitskreis] Darmstadt gegeben“, erzählt Stephan. Dank mobiler Absorber kann man flexibel entweder entsprechende Einzelspuraufnahmen oder auch Live-Aufnahmen mit einer ganzen Band aufnehmen – der Platz ist schließlich da. Im angrenzenden Regieraum laufen alle Kabelverbindungen zentral in einer Patchbay, quasi dem Gehirn des Studios, zusammen. So können einzelne Signale unkompliziert etwa noch einmal durch einen Vorverstärker geschickt werden. Neben der Regiearbeit und kleinen Tonaufnahmen finden in diesem Nebenraum vor allem Postproduktionen sowie In-The-Box-Produktionen statt, bei denen statt mit „echten“ Instrumenten ausschließlich mit Plugins und anderer Software gearbeitet wird. „Klar, wir haben eine gute Mikrofonie, haben uns Gedanken gemacht zu Absorption, Diffusion und Akustik, um eine gute Grundqualität herzustellen und wir haben auch sämtliche Instrumente hier sowie Leute, die mit Herzblut dabei sind“, zählt Stephan auf. „Aber das, was am Ende den eigentlichen Unterschied macht, ist: Hast Du eine coole Idee? Einen coolen Sound?“
Generell habe sich über die Zeit immer mehr Equipment im Haus angesammelt, nicht zuletzt auch durch Tag & Nacht Media sowie diverse Veranstaltungstechniker im Kollektiv. „Das hat sich dann so hochgeschaukelt“, erinnert sich Stephan. „Zusammen mit der Bedroomdisco haben wir auch von Anfang an immer schon Konzerte hier gemacht. Und irgendwann kam dann immer mehr Lichttechnik, eine Nebelmaschine und so dazu …“ Anfangs waren die Tag & Nacht Studios einfach ein Ort, an dem sich befreundete Bands ausprobieren konnten. Man war froh, endlich einen Raum zum Proben, Aufnehmen und Experimentieren zu haben. Und entwickelte sich schnell weiter.
Das Projekt wächst
2013 erweiterte das Gründerteam seine Räumlichkeiten. Im rechten Gebäudeflügel befand sich bisher über das gesamte Stockwerk eine große, offene Halle. Lediglich ein kleiner Lagerraum für das Feuerholz bestand hier. „Wir hatten uns vorher Untermieter gesucht, die Lust hatten, mit ihren Musikprojekten dazuzukommen. Je nach ihren Vorstellungen, also ob sie Proberäume, Produktionsräume oder auch Aufnahmeräume mit Fenstern brauchten, haben wir dann mit Trockenbau einzelne Räume in das Stockwerk gesetzt“, sagt Stephan. So entstanden circa zehn weitere Räume, in denen bis heute nicht nur geprobt, sondern auch viel in Eigenregie aufgenommen und produziert wird.
„Wir wussten ja, wie schwierig es ist, als Band Räumlichkeiten zu finden“, erklärt Stephan weiter. „So konnten wir auch für andere Möglichkeiten schaffen, die wir selbst früher nicht hatten.“ Neben dem Netzwerk vor Ort seien das eben auch Infrastruktur wie Küche, Bar, Klo sowie eine gut angebundene Lage. Zusätzlich konnte man nun das Gesamtprojekt Tag & Nacht mit den Mieten refinanzieren. Bisher hatte „jeder so seine Studi-Ersparnisse mit reingeschmissen“. Das Konzept: Alle Räume sind fest vermietet und werden etwa nicht per Stundenmodell belegt. Neben Bands und Producern kommen auch einige Einzelmusiker:innen zum Üben in die Mornewegstraße. Wichtig sei, dass jede:r sich zu einem gewissen Teil in die Gemeinschaft einbringe. „Klar ist das ein altes Gebäude und es hat so seine Ecken und Macken“, meint Stephan. „Aber es hat auch ganz viel Charakter, es steckt so viel erlebte Zeit hier drinnen. Und wenn du abends um elf Uhr noch eine geile Idee hast, dann komm halt noch mal hier her.“ Daher auch der Name: Tag & Nacht.
Unabhängigkeit dank Untervermietung
Auch für die Produktionen der Initiatoren habe das Konstrukt viele Chancen geboten. Mit Absicht habe man „kein Dienstleistungsstudio gebaut“. Stephan betont: „Durch die Struktur mit der Untervermietung haben wir die Freiheit, Dinge auszuprobieren und Projekten nachzugehen, die kein oder nur vielleicht Geld bringen.“ So habe man eine gewisse Unabhängigkeit und die Möglichkeit, sich frei zu entwickeln – ohne den Druck, einen gewissen Umsatz erwirtschaften zu müssen.
Nachdem Stephan Böhl und Christian Stadach bereits 2013 Tag & Nacht Media gegründet hatten, zog die Medienproduktionsfirma etwa zwei Jahre später in die Etage über den neu erschlossenen Probe-, Aufnahme- und Studioräumen im rechten Gebäudeflügel. Auch diese Fläche stand zu diesem Zeitpunkt noch leer. Über die Zeit entstanden Sound- und Musikproduktionen für Film oder Serien wie die ARD-Doku „Bastards“ und die Serie „Anomalie“ (im Oktober 2024 auf Amazon Freevee erschienen). Aber auch Podcasts und Musikvideos werden hier produziert.
Ständige Weiterentwicklung
In Darmstadt haben die Tag & Nacht Studios nicht zuletzt durch das jährliche Sommerfest Bekanntheit erlangt. Ursprünglich als Eröffnungsfest für den zweiten Gebäudeflügel gestartet, spielt hier jedes Jahr bei freiem Eintritt eine Mischung aus externen Bands sowie Projekte aus den eigenen Probe- und Studioräumen. Neben den Gründungsbands Wortblind und The Sound Section sind in den Tag & Nacht Studios bekannte lokale Bands wie Immergrün (Alternative Rock), Electric Horseman (Indie Folk Rock), Fewsel (Alternative/Progressive Rock), The Barbers (Rock’n’Roll) oder Trail (Psychedelic Stoner Rock) beheimatet. Auch elektronische Musik ist vertreten, etwa mit Mookee oder DJ Ufuk.
Gemeinsam möchte man im Kollektiv Begegnungen schaffen, sich gegenseitig unterstützen und nicht nur Räume und Technik, sondern auch die gemeinsame Leidenschaft für Musik und Kultur teilen. In den letzten 13 Jahren hat sich das Projekt Tag & Nacht dabei immer wieder weiterentwickelt und vergrößert. „Wir haben damals ursprünglich mit einer Perspektive von drei Jahren geplant“, erzählt Stephan und ergänzt mit Blick auf den Verlust der Alten Glasbläserei und immer weniger Raum für Kultur in der Stadt: „Und trotzdem weiß man nie: Werden es 15 Jahre? Oder bleibt es sogar bei den 13?“ Absolute Sicherheit hätten auch sie im Hinterhof der Mornewegstraße nicht. Aber man arbeite „im Team an einer nachhaltigen Perspektive für die Idee von Tag & Nacht“.
Klangspuren-Steckbrief
Wer? Kollektiv aus Bands, Producern und Einzelmusiker:innen
Fokus? Proberäume, Musik- und Medienproduktion, Konzerte
Besonderheiten? Einzelne Räume zur Untermiete, Gemeinschaft durch großes Netzwerk vor Ort
Wen aufgenommen? (teilweise in Eigenregie) unter anderem Wortblind, 20 Hertz, Electric Horseman, Elda, Mookee
Kontakt und Website? tagundnachtstudios.de, info@tagundnachtstudios.de, (06151) 7858340