Wer von Euch kann sich an den 8. Dezember 2018 erinnern? Corona war noch fern, in den USA versuchte Donald Trump die Finanzierung seiner Grenzmauer zu Mexiko durchzufechten, während in Frankreich die Gelbwesten protestierten und Deutschland über die frisch gekürte CDU-Vorsitzende Annegret Kramp-Karrenbauer sprach. Knapp 17.000 Lilienfans hatten jedoch seinerzeit all dies nicht im Sinn. Sie gingen zum Spiel der 98er gegen den FC Ingolstadt. Das 1:1 war das letzte Spiel vor der ikonischen Gegengerade.
Seither rollten am Bölle die Bagger. Die Gegengerade und anschließend die Haupttribüne segneten das Zeitliche. Gegen Ende des Jahres soll das gute, alte Bölle erstmals vollständig in neuem Glanz erstrahlen. Das heißt, mit dem Rückrundenauftakt im Januar 2023 sollen die Fans ihr Team endlich wieder von allen vier Seiten anfeuern können. Mit der Fertigstellung der Haupttribüne am Böllenfalltor wird der Sportverein endgültig ein neues Kapitel in seiner Vereinsgeschichte aufschlagen. Exquisite Sponsorenplätze kennt man in Darmstadt ja nur vom Hörensagen. Das wird sich mit dem Bezug der neuen Haupttribüne ändern. Neben Steh- und Sitzplätzen werden erstmals auch Logen beim SVD im Angebot sein. Für hartgesottene und traditionsverliebte Anhänger wahlweise ein notwendiges Übel oder gar ein No-Go. Gewissermaßen als Beweis für einen Fußball, der sich von den Fans entfremdet und zahlungskräftigen Kunden zuwendet. Der großen Mehrheit wird es aber herzlich egal sein, denn auch bei den 98ern bleibt die Zeit eben nicht mehr stehen, wie noch in den 30 Jahren zwischen dem vorletzten Bundesligaaufstieg 1981 und der Drittligarückkehr von 2011. Der SVD ist wieder wer im nationalen Fußball. Neben einer zuletzt immer schlagkräftigeren Mannschaft stehen dafür die inzwischen professionellen Strukturen rund um das Team und eben die deutlich verbesserte Infrastruktur.
Mehr als 100 Jahre Böllenfalltor
Gerade mal 2.900 Zuschauer sollen auf der mächtigen Haupttribüne Platz finden. Hinter den Toren versammeln sich auf den Sitzplätzen der Nord- und den Stehplätzen der Südtribüne zusammen etwa 6.100 Fans. Über allen thront die Gegengerade mit ihren Sitzplätzen im Oberrang und den Stehplätzen darunter, die nicht ganz 9.000 Fans aufnehmen kann. Alles in allem werden ab dem kommenden Jahr fast 18.000 Anhänger die Partien in einem runderneuerten Bölle miterleben können, von denen die meisten nach wie vor stehen werden! Der Umbau, er wird also rechtzeitig vor dem anstehenden 125-jährigen Vereinsjubiläum im Mai 2023 abgeschlossen sein. Und wer miterlebt hat, wie rasch die Lilienfans die neue Gegengerade angenommen haben, der zweifelt nicht daran, dass das auch auf die neue Haupttribüne zutreffen wird. Sicher, gerade die Erinnerung an die alte Gegengerade, sie wird bei vielen in Ehren gehalten. Und dennoch haben sie den Neubau rasch als ihr neues Wohnzimmer akzeptiert und ihren Stammplatz im neuen Umfeld gefunden. Sie sind nun näher dran am Spiel, da die Gegengerade in Richtung Spielfeld verlegt wurde und der Oberrang bietet eine perfekte Übersicht über das Geschehen auf dem Rasen. Ganz zu schweigen von richtigen sanitären Anlagen und dem verbesserten Catering-Angebot.
Ziemlich neu und herrlich uneinheitlich
Und wer selbst damit noch irgendwie fremdeln sollte, dem sei gesagt, dass das Bölle im Laufe seiner Geschichte nie in Stein gemeißelt war. Es erlebte in seiner inzwischen 101-jährigen Existenz so manche bauliche Korrektur. Die Haupttribüne veränderte ihr Aussehen ebenso wie die Gegengerade, die im Zuge der Bundesligaaufstiege massiv aufgestockt wurde. Hinzu kamen Anfang der 1980er-Jahre die über die Jahre lieb gewonnenen Flutlichtmasten, die damals auf Maßgabe des DFB anzuschaffen waren. Die Haupttribüne, sie war ehedem aus Holz, bevor sie ihr späteres Aussehen mit reichlich Beton und Wellblech erhielt. Das Oval, okay, das gibt es tatsächlich nicht mehr. Seit die mobilen Hintertortribünen im Rahmen des letzten Bundesligaabenteuers angeschafft wurden, ist aus dem Bölle ein Viereck geworden. Mit der ebenfalls ans Spielfeld herangerückten Haupttribüne wird es ein symmetrisches. Das Bölle ist also dabei, eine richtig tolle Bude zu werden. Durch die Dächer – Aficionados der alten Gegengerade jetzt bitte ganz stark sein – wird das Stadion zugleich stimmungsvoller. Das zeigen die Erfahrungen mit den bereits stehenden Tribünen. Die offenen Ecken stehen zugleich in der Tradition klassischer englischer Stadien. Damit sticht das Bölle heraus unter den – zumindest am TV – oft austauschbar erscheinenden Arenen dieser Republik. Und wem das Stadion an der Nieder-Ramstädter Straße dennoch zu geleckt erscheint und zu wenig rough, der soll nur mal seinen Blick über das Bölle schweifen lassen. Es wirkt doch herrlich uneinheitlich. Die geduckten Hintertortribünen nehmen sich im Vergleich zur Haupt- und zur Gegengerade geradezu winzig aus. Und auch die beiden Geraden gleichen sich nun wirklich nicht wie ein Ei dem anderen.
Ein Stadion für und in der Stadt
Wir dürfen gespannt sein, wie sich das erste Heimspiel vor vollem Haus am neuen Bölle anfühlt und wie es sich vor allem anhört. Ich persönlich bin heilfroh, dass es diesen Ground nach wie vor gibt. Denn zwischenzeitlich standen die Zeichen doch sehr auf Abschied. Gott sei Dank blieb uns der Umzug an einen der alternativen Standorte erspart. Das Bölle ist und bleibt das Bölle. Seit nunmehr 121 Jahren. Und das will was heißen, in einer Zeit, in der sich Fußballstadien eher in Gewerbegebieten oder an Autobahnausfahrten wiederfinden, nur eben nicht dort, wo der Fußball ehedem groß geworden ist: in den Städten. Im Falle Darmstadts heißt es glücklicherweise: Der Ball rollt weiterhin am Böllenfalltor an der Nieder-Ramstädter Straße. Und das ist verdammt noch mal gut so!
Matthias und der Kickschuh
Seit Ende 2011 schreibt Kickschuh-Blogger Matthias „Matze“ Kneifl über seine große Leidenschaft: den Fußball. Gerne greift er dabei besonders abseitige Geschichten auf. Kein Wunder also, dass der studierte Historiker und Redakteur zu Drittligazeiten begann, über die Lilien zu recherchieren und zu schreiben. Ein Resultat: das Taschenbuch „111 Gründe, den SV Darmstadt 98 zu lieben“, das (auch in einer erweiterten Neuauflage 2019) im Schwarzkopf & Schwarzkopf Verlag erschienen ist. Seit Juli 2016 begleitet Matthias gemeinsam mit vier Mitstreitern die Lilien im Podcast „Hoch & Weit“. Genau der richtige Mann also für unsere „Unter Pappeln“-Rubrik!