Foto: Ulrike Liebig

Es gibt immer etwas, das einem fehlt, wenn man seine Heimat verlässt. Vor allem, wenn man seine Heimat verlassen muss. Es gibt die unterschiedlichsten Beweggründe, warum Menschen gezwungen werden zu gehen. Und es gibt ebenso viele Geschichten dahinter. Zwei Geschichten haben wir bereits kennengelernt. Shukur (22) und Mohammad (21), die vor drei Jahren aus Afghanistan nach Deutschland geflüchtet sind und heute in Darmstadt leben. Das Ehepaar Navid Neschat-Mobini und Ulrike Liebig hat damals für die beiden eine Patenschaft übernommen (Oktober-P 2015), im Rahmen einer Initiative des Sozialkritischen Arbeitskreises. Was Shukur und Mohammad in den letzten Jahren erlebt haben, erzählten wir im Mai-P 2016 und im Februar-P 2017. Was machen die beiden heute? Und wie geht es ihnen? Die Fortsetzung einer Geschichte über Heimatgefühle und Träume, zwischen Warten und Hoffen.

Seit Shukur in Deutschland ist, hat er schon viel erlebt auf dem Arbeitsmarkt. Leider ist der Weg für ihn beschwerlich. Sein Lebenslauf gleicht einer großen Reise in die unterschiedlichsten Betriebe. Vom Dachdecker, über Landschaftsgärtnerei bis hin zum Schneider: Er hat in viele Bereiche reingeschnuppert. Doch eine feste Anstellung, die Stabilität bringt, bleibt nach wie vor schwierig, hinzu kommen noch sprachliche Barrieren. „Verstehen, das klappt gut, aber Kommunikation ist nicht immer einfach“, erzählt Ulrike Liebig.

Das fragile Gefühl minimaler Sicherheit

Shukurs Talent im Schneidern brachte ihm kürzlich eine Ausbildung zum Änderungsschneider in Hattersheim (bei Frankfurt). „Die Arbeit macht viel Spaß!“, berichtet er. Doch die Arbeitsmarktsituation unterliegt spezifischen Rahmenbedingungen, die sich zum Teil als beträchtlicher Nachteil erweisen: Shukurs Ausbildungsgehalt liegt bei 180 Euro, sodass er weiterhin auf Unterstützung angewiesen ist. Anzeichen von Einschränkungen, Druck und Abhängigkeit überlagern das fragile Gefühl minimaler Sicherheit. Denn auch in der neuen Heimat scheint es, als seien die Wege und Möglichkeiten nicht selbstverständlich. Die Ungewissheit bei der Suche nach einer gesicherten beruflichen Zukunft hält an.

Mohammad besuchte die Martin-Behaim-Schule, um seinen Hauptschulabschluss zu machen, den er als Zweitbester seiner Klasse erreicht hat. Dafür lernte er in der Bibliothek mit Ramin, dem ältesten Sohn der Familie Liebig, er überwand Sprachbarrieren und auch der gemeinschaftliche Besuch eines Lilienspiels trug dazu bei, den neuen Alltag mit mehr Unbeschwertheit zu bewältigen. Was Mohammad besonders an Darmstadt gefällt? „Meine Lieblingsorte sind der Herrngarten, die Orangerie und das Oberwaldhaus.“ Zudem hat er im Februar bei „Vom Biegen und vom Brechen“, dem Theaterkooperationsprojekt der Heinrich-Emanuel-Merck-Schule, der Martin-Behaim-Schule und dem Theater Gruene Soße Frankfurt mitgewirkt, das sich spielerisch mit persönlichen Erlebnissen im Mikrokosmos „Schule und Bildung“ beschäftigt. „Etwas zu machen, hilft sehr“, sagt Mohammad.

Ablehnung trotz Ausbildungsplatz?

Dann kam eine gute Nachricht: Anfang August 2018 hat Mohammad eine Ausbildung zum Augenoptiker bei Fielmann in Darmstadt begonnen. Doch die Geschichte eines Alltags, der für ihn jeden Tag voller Überraschungen ist, bleibt immer wieder in einem Schwebezustand zwischen vermeintlicher Normalität und einer Heimat in der Fremde. Und der Dschungel der deutschen Bürokratie wird nun auch für Mohammad zur großen Hürde. Der Ablehnungsbescheid seines Asylantrages kam im Februar. Zwischen Prüfungsstress und Ausbildung heißt es jetzt auch für ihn: Warten auf eine ungewisse Zukunft. Ein Hoffnungsschimmer, der schwer fällt und zur Zerreißprobe wird. Denn in Mohammads Heimatstadt Ghazni gab es erst vor wenigen Wochen 130 Tote nach schweren Kämpfen zwischen afghanischen Regierungstruppen und radikalislamischen Taliban.

Vieles hat sich verändert, seit die beiden in Darmstadt sind. Viel Gutes war gewiss dabei. Sie haben neue Menschen kennengelernt, gute Freunde gefunden. Und mit ihrer Patenfamilie einen großen Halt. Doch das Heimweh bleibt. „Am meisten vermisse ich meine Familie zu Hause“, sagt Mohammad.

Shukur und Mohammads persönliche Geschichten sind Geschichten, die in unserer Wahrnehmung viel zu kurz kommen. Denn es sind Geschichten, die viele Wahrheiten enthalten. Sie erzählen einerseits von Rettung und Hoffnung auf ein besseres Leben. Andererseits aber auch von Ängsten, vom Bangen und vom Zurücklassen. Worte wiegen die Bedeutung dieser Geschichten nicht auf. Doch jeder kann mit solchen Geschichten auch anders in Berührung kommen, als sie immer nur zu lesen. Jeder kann aktiv werden und beispielsweise eine Patenschaft übernehmen. Wichtig ist Offenheit, die angesichts der zunehmenden Präsenz der Themen Flucht und Migration auch in Darmstadt weiter aufrecht erhalten werden muss.

 

Eine Patenschaft übernehmen – einander reicher machen

Eine Patenschaft lohnt sich nicht nur für Geflüchtete. So wie Navid Neschat-Mobini und Ulrike Liebig könnt auch Ihr aktiv helfen. Ob als Vermittlungsstelle bei der Kommunikation mit Behörden und Ämtern oder bei anderen sprachlichen Hindernissen ist eine Patenschaft eine gute Gelegenheit sich einzusetzen. Wie das geht? „Nur keine Berührungsängste haben“, empfiehlt Marina Rotärmel vom Sozialkritischen Arbeitskreis (SKA), „einfach bei uns melden“. Per Mail: asyl@ska-darmstadt.de oder Telefon (06151) 9675350. Der SKA vermittelt behutsam, es gibt Kennenlern-Termine und, wenn die Chemie stimmt, geht’s dann auch ziemlich schnell los mit der Patenschaft.

Ein ausführliches Interview zu dem Thema findet Ihr hier.

 

Stadtaktion „Moving People“

Bürgerbewegung in doppeltem Sinne: Die städtische Aktion „Moving People“ setzt sich mit den Herausforderungen und Veränderungen Darmstadts in Bezug auf Zuzug und Bevölkerungswachstum auseinander „und versucht die Solidarität in der Bürgerschaft und der Stadtgesellschaft zu stärken und Verständnis sowie Akzeptanz für die Veränderung zu erzeugen“. „Moving People“ versucht geflüchteten Menschen, die in Darmstadt ein Zuhause gefunden haben, ein Gesicht zu geben, in dem die Menschen und deren Fluchtursachen über greifbare Geschichten und Figuren im öffentlichen Raum in den Fokus gerückt werden.

Offizieller Start ist am Montag, 01. Oktober, um 12 Uhr auf dem Ludwigsplatz. Oberbürgermeister Jochen Partsch und Planungsdezernentin Barbara Boczek lassen Luftballons mit Postkarten steigen, um die Aktion über die Stadtgrenzen hinaus bekannt zu machen. Außerdem werden kleine Figuren des Künstlerkollektivs „Power of Art House“ aus den Niederlanden im öffentlichen Raum aufgestellt. Das Straßenkunst-Projekt startete einmal mit 10.010 Figuren, sogenannten „Mini-Flüchtlingen“, in Amsterdam und Den Haag. Sie reisten in andere Städte und andere Länder und sind immer noch unterwegs.

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