Foto: Alfred Harder

Während sich die Lilien aktuell Erstligist nennen dürfen, sah das vor ziemlich genau 20 Jahren völlig anders aus. Im Frühjahr 2004 war der SVD damit beschäftigt, den Abstieg in die damals viertklassige Oberliga Hessen zu korrigieren. Die Saison unter Jungcoach Bruno Labbadia sollte kein Selbstläufer werden. Denn da gab es einen hartnäckigen Kontrahenten aus Nordhessen, der am 20. März 2004 zu einem denkwürdigen Duell ans Bölle kam.

Über 7.600 Fans ließen es sich an jenem regnerischen Samstag nicht nehmen, an die Nieder-Ramstädter Straße zu kommen. Sie wollten das Spitzenspiel gegen Hessen Kassel miterleben – und sie sollten die Partie nicht so schnell vergessen. Die Ausgangssituation war klar. Die Lilien hatten sich nach dem Abstieg im vorangegangenen Sommer kurz geschüttelt und starteten mit elf Siegen die Mission Wiederaufstieg. Doch dann fing der Motor ein wenig an zu stottern. In den darauffolgenden acht Begegnungen gab es die erste Saisonniederlage beim FSV Frankfurt – plus vier Remis, unter anderem vor 12.000 Zuschauer:innen bei Borussia Fulda. Dennoch führten die 98er vor der Partie gegen Kassel weiterhin die Tabelle an. Der alte Rivale hatte einen schleppenden Saisonstart hingelegt, kam dann aber immer besser in Schwung. Mit einem Spiel weniger lag Kassel vor der Partie am 24. Spieltag sechs Punkte hinter den Lilien. Ein Sieg, und die Gäste wären wieder richtig im Geschäft. Folglich begleiteten sie 1.300 Fans ans Bölle.

Anicic vs. Chalaskiewicz

Die erste Hälfte ist schnell erzählt. Kassel traf das Alu, die Lilien durch Daniel Ciuca zum 1:0. Die zweiten 45 Minuten waren dann ein Wechselbad der Gefühle. Kassel drängte auf den Ausgleich, der denn auch in der 55. Minute fiel. Die 98er hatten Mühe, ihr Spiel aufzuziehen. Doch sie hatten jemandem im Kader, der ausgezeichnet mit dem ruhenden Ball umgehen konnte: Michael Anicic. Er war vor der Saison zum SVD gekommen und brachte einiges an Erfahrung aus der Bundesliga und dem Ausland mit. In der 64. Minute legte sich der Mittelfeldregisseur den Ball 25 Meter vor dem Tor zum Freistoß zurecht. Anschließend trat er ihn formvollendet oben rechts in den Winkel. 2:1! Kassel ließ aber nicht locker. Denn auch sie hatten einen Anicic in ihrem Team. Der hieß Slawomir Chalaskiewicz, war inzwischen 40 Jahre alt und Profi durch und durch. Er hatte viele Jahre in der Bundesliga und der 2. Liga gespielt. Auch für die polnische Nationalelf war er aufgelaufen. In der 71. Minute zeigte er dann seine Freistoßkunst. Gefühlvoll versenkte er den Ball zum 2:2 im Netz.

Kassel hatte wieder Oberwasser und drängte auf den Führungstreffer. Doch wieder gab es Freistoß für die Lilien. Wieder rund 25 Meter vor dem Tor. Und wieder trat Anicic in Aktion. Dieses Mal schlenzte er den Ball einfach links oben in den Knick. Das Bölle eskalierte. Das musste den Gästen endlich mal den Rest geben. Aber … Pustekuchen. Kassel warf alles in die Waagschale, während die Lilien dagegenhielten. Leider vergebens. In der 84. Minute kam der unvermeidliche Thorsten Bauer in zentraler Position zum Abschluss und der Torjäger bedankte sich mit dem erneuten Ausgleich. Dreimal führten die Lilien, dreimal schlug Hessen Kassel zurück. Sollte es das nun endlich gewesen sein? Nein!

Ein denkwürdiger Freistoß …

Denn was nun folgte, das sollte dem ganzen Spiel die Krone aufsetzen. Zwei Minuten nach dem 3:3 erhielt Kassel vor der Haupttribüne einen Freistoß kurz hinter der Mittellinie. Normalerweise ein klarer Fall. Kurz ausgeführt und weiter geht’s. Selbst für eine Flanke in den Strafraum erschien die Distanz wenig vielversprechend. Nicht aber für Chalaskiewicz. Er checkte kurz die Lage und haute den ruhenden Ball aus rund 45 Metern einfach auf den Kasten. Keine Ahnung, was Keeper Patrick Gräber in dem Moment dachte, aber sonderlich förderlich war es nicht. Denn das Leder senkt sich über ihn unterhalb der Latte ins Tor. Während der Auswärtsblock steil ging, konnten es alle Lilienfans nicht fassen. Was ging hier eigentlich gerade ab? Was für ein Klops! Was für ein irrwitziger Spielverlauf! Was für ein Westernduell zwischen zwei Kunstschützen, mit dem besseren Ende für Kassel. Beide Teams waren sich in der zweiten Hälfte mit offenem Visier begegnet. Dass Kassels Bauer danach mit Gelb-Rot vom Platz flog, das interessierte fast niemanden mehr. Die Lilien hatten verloren. Im eigenen Stadion. Gegen Kassel. Ausgerechnet!

Die Nordhessen waren jedenfalls wieder dick im Aufstiegsrennen. Einen Sieg in deren Nachholspiel vorausgesetzt und sie würden an den Lilien aufgrund des besseren Torverhältnisses vorbeiziehen. Entsprechend bedient war Bruno Labbadia nach der Partie. Er ging fest von einem Sieg des Kontrahenten im Nachholspiel aus, das wenige Wochen später stattfinden sollte. Gästecoach Hans-Ulrich Thomale hingegen gab den Mahner: „Die Mannschaft, die auch bei den vermeintlich kleinen Gegnern punktet, wird am Ende oben stehen.“ Und so kam es tatsächlich. Kassel strauchelte bereits beim nächsten Heimspiel (und noch vor dem Nachholspiel) zu Hause gegen Wald-Michelbach (nur 1:1). Während Kassel ein weiteres Mal unentschieden spielen sollte, ließ der SVD keinen einzigen Punkt mehr liegen. Am Ende der Saison stieg der SVD mit 88 Punkten aus 34 Spielen auf, während Kassel mit starken 84 Punkten das Nachsehen hatte.

… als Karriereknick

Für eine Lilie jedoch bedeutete das 3:4 gegen Kassel mehr oder weniger das Ende seiner Fußballkarriere: Keeper Patrick Gräber verlor nach dem verhängnisvollen Fehler seinen Stammplatz im Tor. Er sollte in den Folgejahren nur noch zweimal im Kasten der 98er stehen, bevor er ab 2006 in den unterklassigen Fußball wechselte. Schuld war ein Freistoß aus 45 Metern, getreten an einem verregneten Samstagnachmittag im März 2004.

 

„Vier Spiele, vier Siege!“ [sic!]

Sa, 2.3., 15.30 Uhr: SV Darmstadt 98 — FC Augsburg

Sa, 9.3., 15.30 Uhr: Leipzig — SV Darmstadt 98

Sa, 16.3., 15.30 Uhr: SV Darmstadt 98 — FC Bayern München

Sa, 30.3., 15.30 Uhr (tbc): VfL Bochum — SV Darmstadt 98

sv98.de

 

Matthias und der Kickschuh

Seit Ende 2011 schreibt Kickschuh-Blogger Matthias „Matze“ Kneifl über seine große Leidenschaft: den Fußball. Gerne greift er dabei besonders abseitige Geschichten auf. Kein Wunder also, dass der studierte Historiker und Redakteur zu Drittligazeiten begann, über die Lilien zu recherchieren und zu schreiben. Ein Resultat: das Taschenbuch „111 Gründe, den SV Darmstadt 98 zu lieben“, das (auch in einer erweiterten Neuauflage 2019) im Schwarzkopf & Schwarzkopf Verlag erschienen ist. Seit Juli 2016 begleitet Matthias gemeinsam mit vier Mitstreitern die Lilien im Podcast „Hoch & Weit“. Genau der richtige Mann also für unsere „Unter Pappeln“-Rubrik!

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