Es fehlten 236 „Ja“-Stimmen. Die Bürgerinitiative Ohne Nordostumgehung (BI ONO), im Kern rund 20 engagierte Darmstädter Bürger, wollte den Bau der umstrittenen Trasse vom Ostbahnhof durch den Bürgerpark bis zum Martin-Luther-King-Ring verhindern. Die Zustimmung beim ersten Bürgerentscheid in der Geschichte Darmstadts lag bei 54,6 Prozent. Doch das nötige Quorum, gleichzeitig 25 Prozent aller Wahlberechtigten auf seiner Seite zu haben, wurde um eben jene 236 Stimmen (0,22 Prozent) verfehlt. Das Ende aller verkehrspolitischen Träume? Das Ende der Bürgerinitiative? Das P interviewte den Sprecherkreis der BI ONO, Sabine Crook, Wolfgang Pütter und Heidrun Wilker-Wirk zwei Tage nach dem Bürgerentscheid.
Wie empfindet Ihr den Ausgang des Bürgerentscheids vom 7. Juni? Wie eine Niederlage? Oder sagt Ihr Euch: „Endlich ist der Stress vorbei“?
Wolfgang: Es bleibt ein negativer Beigeschmack, weil wir das Quorum nicht erfüllt haben. Aber mit ein wenig Abstand und unterm Strich bin ich froh und auch sehr stolz, dass wir mit unserer kleinen BI ONO so viele Darmstädter dazu bewegen konnten, zur Wahl zu gehen und mit „Ja“ gegen die Nord-Ost-Umgehung zu stimmen. Ich gehe auch mit der Gewissheit in die nächsten Wochen, dass – abgesehen von den Kraftsprüchen der lokalen Politiker – die Entscheidungsträger es nicht bringen können, dieses Votum zu übergehen. Bei der letzten Kommunalwahl haben 2.500 Menschen in Darmstadt FDP gewählt – und wir haben das Zehnfache erreicht! Das muss man sich mal vorstellen! Also wenn der FDP-Fraktionsvorsitzende Leif Blum sich aufspielt wie „Graf Pipi“ in der Stadtverordnetenversammlung, dann denkt man sich: „Der müsste sooo klein mit Hut sein, eigentlich.“
Wie sehr hat die BI ONO Euer Leben in den vergangenen neun Monaten bestimmt?
Sabine: Ich habe in den letzten Wochen quasi Vollzeit für die BI ONO gearbeitet. Letztes Jahr bei der Unterschriftenaktion habe ich meinen kompletten Jahresurlaub genommen. Man ist schon sehr gefangen von der Geschichte, redet über nichts anderes mehr – und wenn man abends ins Bett fällt, träumt man sogar davon. Deshalb bin ich jetzt schon erleichtert, dass es vorbei ist. Auch, weil ich uns nicht als Verlierer sehe, sondern ganz im Gegenteil als Gewinner, als moralische Gewinner. Wenn SPD-Fraktionsvorsitzender Hanno Benz oder Leif Blum (FDP) einfach über das Ergebnis des Bürgervotums hinweg gehen wollten, würde ich das als politischen Selbstmord dieser zwei ansehen. Vor allem auch, weil ja gerade die Anwohner der Gebiete, die angeblich am meisten vom Verkehr entlastet werden sollen, zu 70 bis 75 Prozent, teilweise noch höher, für uns votiert haben.
Habt Ihr die Stadt und die verantwortlichen Politiker als Gegner empfunden?
Sabine: Auf alle Fälle, seitdem sie mit ihrer Riesen-Werbe-Hetzkampagne angefangen haben. Die von der Stadt haben uns lange auch nicht ernst genommen. Die dachten wohl lange, wir seien ein Chaos-Spinnerhaufen – was wohl daran liegt, das wir in der Tat eine sehr heterogene Gruppe sind.[lacht]
Heidrun: Über den Bürgerentscheid hat die Stadt ja ganz lange geschwiegen. Diese neue Form der Demokratie war den Politikern scheinbar nicht recht. Sie haben uns zwar nicht versucht zu torpedieren, aber zum Beispiel die Bürgerversammlung wurde nur in einer klitzekleinen Anzeige in der Zeitung erwähnt, das war der einzige Hinweis. Da merkte man schon, dass sich die Stadt nicht dazu bekennt, dass hier die Bürger das Wort bekommen.
Gab´s denn irgendwann auch mal direkten Kontakt zu den Politikern?
Sabine: Wir haben als BI ONO im Vorfeld vor dem Bürgerbegehren im September 2008 wirklich jeden Stadtverordneten einzeln besucht, bequasselt und versucht, ein Umdenken herbeizuführen.
Wolfgang: Es gab welche von uns, die waren penetrant und haben wirklich „Klinken geputzt“, quer durch alle Fraktionen. Aber letztendlich waren sie unsere Gegner.
Wenn jetzt aus der Ampelkoalition der Vorschlag käme, die BI ONO in die Planung einzubeziehen: Wäre das etwas, was Ihr Euch vorstellen könntet?
Sabine: Was heißt „in die Planung“? Also ich denke, die BI ONO steht wirklich für „Ohne Nord-Ost-Umgehung“. Da gibt es keine Kompromisse.
Wolfgang: Es gab auch einen Planungsbeirat „Nord-Ost-Umgehung“, wo viele Gruppen wie die BUND oder Agenda 21 sich beteiligt haben. Wir haben uns bewusst dagegen entschieden, weil dort die Nordostumgehung bereits gesetzt war. Da ging´s schon gar nicht mehr darum ob „Ja“ oder „Nein“, sondern nur noch darum: „Wie schwächen wir die Sache ab?“
Sabine: Wir hatten mal eine Veranstaltung Anfang Mai, die hieß „Demokratie vor der Haustür“. Da haben die Politiker mehrfach wiederholt, dass sie es gut finden, dass sich Bürger politisch engagieren und sich in Beiräten einbringen, aber entscheiden tut dann die Politik. Das haben sie wirlich so gesagt! Nach dem Motto: „Macht Ihr ruhig mit, im Endeffekt machen wir doch eh, was wir wollen.“ Neben mir saßen die Leute, die sich gegen die ICE-Trasse engagiert hatten und nach jahrelanger Planung und Mitsprache dachten, sie seien wirklich in das Projekt integriert. An diesem Tag erfuhren sie, dass ihre Mitwirken völlig umsonst war.
Die durchschnittliche Geschwindigkeit des Stadtverkehrs in London beträgt mittlerweile 19 km/h, in Berlin immerhin 24 km/h. Ist der stehende der Stadtverkehr die Zukunft?
Sabine: Anfang des Jahrhunderst waren es auch 19 km/h.
Wolfgang: In der Stadt gibt es kein schnelleres und gesünderes Verkehrsmittel als das Fahrrad.
Sabine: Gerade in Darmstadt, wir haben ja keine Berge hier. Wenn wir in Berchtesgaden wohnen würden, wäre das was anderes. Da ist Fahrradfahren anstrengend, aber hier in Darmstadt? Ich erwarte schon einen kleinen Rückbau, wie zum Beispiel hier im Martinsviertel, wo man kleine Sträßchen einspurig macht und wieder für Fahrräder befahrbar.
Wie könnt Ihr Euch den Darmstädter Verkehr in 20 Jahren vorstellen?
Wolfgang: Ich hoffe, mit weniger Autos, und einer Politik, die weniger auf den motorisierten individuellen Personenverkehr zugeschnitten ist. Darmstadt ist aufgrund seiner Größe und Topographie dazu prädestiniert, den Radverkehr zu fördern. Nicht so wie bisher, wo mal ein wenig rote Farbe auf die Straße gemalt wird. Da gehört viel mehr dazu! Es ist teilweise so gefährlich, hier Fahrrad zu fahren, dass viele sagen: „Ich lasse meine Kinder hier nicht mit dem Rad fahren.“
Vielleicht liegt es aber auch an der Bequemlichkeit der Leute?
Wolfgang: Bequemlichkeit auf der einen Seite. Auf der anderen Seite: Wenn man es den Autofahrern immer leichter macht von A nach B zu gelangen mit ihrer Blechkutsche, dann wird sich das auch nicht ändern.
Sabine: Es geht schon los mit Parkplätzen für Autos gegenüber zu wenigen gescheiten Fahrradständern. Da muss man sich nur mal den Marktplatz anschauen, da stehen meines Wissens nach vier Stück, das ist doch kein Angebot!
Es haben letztendlich 0,22 Prozent an zustimmenden Wahlberechtigten gefehlt, die mit „Ja“ gegen den Bau der Nordostumgehung hätten stimmen müssen. Macht Ihr den Darmstädter Bürgern einen Stück weit einen Vorwurf, da anscheinend ja doch einige zu Hause geblieben sind?
Wolfgang: Vorwurf nicht, aber es wurmt uns natürlich, dass wir den Sack nicht komplett zu gemacht haben. Es ist eine gewisse Wahlmüdigkeit da, und wir hatten natürlich gehofft, mehr Leute vom Sofa an die Wahlurne zu locken.
Sabine: Wir hatten im Hinblick auf die Europawahl in Hessen die beste Wahlbeteiligung.
Ist Euer Resümee, dass die Darmstädter die Politik nicht mitgestalten wollen, auch wenn sie es mal könnten?
Sabine: Es gibt immer viele, die immer noch nicht wissen, was die Nordostumgehung ist. Das hat mich erschreckt. Man hat ja vor Plakaten die Bäume nicht mehr gesehen…
Wie habt ihr Eure Kampagne überhaupt finanziert? Über Spenden?
Sabine: Es gab verschiedene Spendenaufrufe, teilweise ist die Büchse rumgegangen. Die Pappen für die Plakate haben wir von den kleinen lokalen Parteien zur Verfügung gestellt bekommen. Und die Plakate waren jetzt nicht so teuer, vielleicht 200 Euro. Die Arbeit ist das Aufwendigste: kleben, tapezieren, teilweise vorher das alte Plakat abkratzen, aufhängen.
Es gab ja schon viele umstrittene politische Themen in Darmstadt in den letzten Jahrzehnten, warum erst jetzt den ersten Bürgerentscheid?
Sabine: Es hat vor uns schon mal jemand einen versucht, der aber nicht zur Abstimmung kam. In Hessen sind die Anforderungen für Bürgerentscheide sehr hoch, im Gegensatz zu Bayern beispielsweise.
Würdet Ihr Euch den ganzen Stress nochmal geben?
Wolfgang: Für das selbe Thema sowieso nicht und für mich ist jetzt irgendwie auch ein Schnitt da, was auch daran liegt, dass ich einige Sachen habe liegen lassen müssen, um die ich mich jetzt kümmern muss. Deshalb werde ich mich jetzt für ein gutes Stück aus der BI ONO ausklinken. Für mich ist die Mission der Bürgerinitiative erfüllt, für mich ist der Auftrag an die Politik klar erteilt.
Wer soll denn jetzt übernehmen?
Wolfgang: Entweder die Grünen oder die kleineren Parteien im Stadtparlament, die sind ja auch auf unserer Seite: Uffbasse, die Linke, Uwiga und die Alternative Darmstadt.
Gibt es zurzeit ein Revival der Bürgerinitiativen? Stichwort „ICE-Trasse“, „Friedensplatz“ und „Schlossmuseum“.
Wolfgang: Ich habe nicht das Gefühl. Wir hatten vielleicht Glück, dass sich hier eine so aktive Gruppe zusammengefunden hat und gegen dieses Projekt mit viel intensivem Einsatz vorgegangen ist. Aber, dass die Leute generell politikinteressierter sind, das glaube ich nicht. Eher das Gegenteil ist der Fall.
Wäre es nicht schade, das Netzwerk, das sich durch die BI ONO gebildet hat, jetzt einfach zu kappen?
Wolfgang: Mich hat schon der Allgemeine Deutsche Fahrradclub (ADFC) angesprochen, die haben Probleme, aktive Mitglieder zu akquirieren. Sie meinten, sie könnten unsere Erfahrungen und Fähigkeiten, was Stände, Kommunikation und so weiter angeht, gut gebrauchen. In der Richtung geht’s vielleicht eher weiter.
Heidrun: Also ich mache wohl beim BUND weiter. Und selbst, wenn wir hier als BI ONO kein weiteres Betätigungsfeld finden werden, wird unser Netzwerk im Untergrund weiterbestehen.