Foto: Nouki

Keine Frage, die zurückliegende Bundesligasaison war ein Schrecken ohne Ende. Und als ob das nicht genug wäre, folgte zum Auftakt der neuen Spielzeit ein Ende mit Schrecken. Das peinliche 0:4 in Elversberg war der letzte Auftritt von Torsten Lieberknecht an der Seitenlinie der 98er. Der Coach verabschiedete sich tränenreich, große Teile der Lilienfans trauerten, während mit Florian Kohfeldt der Nachfolger schon parat stand.

Es waren Anfang September turbulente Tage am und rund ums Bölle. Torsten Lieberknecht hatte nach dem missglückten Saisonstart seine Freistellung angeboten und der Sportverein willigte ein. Was lange Zeit ein Honeymoon zwischen Coach, Vereinsführung und Fans war, kam zu einem abrupten Ende. Zwei Jahre hatte Lieberknecht ansehnlichen und erfolgreichen Zweitligafußball spielen lassen. Doch mit dem Bundesligaaufstieg war der Zauber schlagartig verflogen. Der SVD wirkte im Konzert der Großen völlig deplatziert. Dass der Coach trotz miserabler Punktausbeute nie angezählt wurde, lag maßgeblich an zwei Faktoren. Erstens war da seine ehrliche Identifikation mit den 98ern, der Stadt und den Fans. Lieberknecht war nahbar und authentisch, er sprach die Sprache der Anhänger. Wohl noch nie hat man an der Nieder-Ramstädter Straße einen bereits etablierten Trainer erlebt, der sich den Lilien derart verbunden fühlte. Und dann war da zweitens die Jobgarantie der Vereinsspitze. Sie hatte im Sommer 2023 den Kontrakt des Trainers großzügig bis 2027 ausgedehnt. Kritik am Coach sollte so bei sportlicher Erfolglosigkeit im Keim erstickt werden. Kontinuität sollte Trumpf sein. Der Abstieg war eingepreist.

Ein sich hinterfragender Coach

Doch die schreckliche Bundesligaspielzeit, sie hatte bei Lieberknecht wohl Spuren hinterlassen. Im Auftaktinterview des „Lilienkuriers“ zur neuen Saison hatte er mehrere Faktoren benannt, die ihm zunächst geholfen hatten, die zurückliegende Saison zu verarbeiten: der Rückhalt seiner Familie, der Zuspruch der Fans, die Zusammenarbeit mit dem neuen sportlichen Leiter Paul Fernie und die Rückmeldungen von Trainerkollegen. Fernie habe sich als Außenstehender ein Bild von Lieberknechts Trainingsarbeit, seinen Ansprachen und seinen Ideen machen können. Der Austausch mit Fernie wirkte positiv auf Lieberknecht. Genauso wie der Zuspruch von Trainern anderer Profiklubs. Dies alles habe ihm geholfen, „in der Trainertätigkeit und in meinem Trainerwissen bestätigt zu werden“. Aussagen wie diese zeigen, dass sich Lieberknecht trotz Rückendeckung der Klubverantwortlichen sehr wohl hinterfragt hat. Sie legen nahe, dass die andauernden Nieder- und Rückschläge zumindest ein wenig an seinem Selbstverständnis genagt haben. Wie gut war es da, dass die Seuchensaison hinter ihm und dem Team lag. Zudem stießen zahlreiche neue und unbelastete Spieler hinzu. Lieberknecht blickte deshalb vor dem Saisonauftakt gelöst und positiv auf die neue Spielzeit.

Ein großartiger Mensch

Wie sehr muss der Fehlstart dann auf ihn eingewirkt haben, mit dem Höhepunkt der indiskutablen Leistung in Elversberg? Nach der Partie erlebte man ihn aufgewühlt, geschockt und ratlos. Er, der so sehr auf eine funktionierende Elf setzen wollte, wurde von der gleichen Mannschaft, die noch eine Woche zuvor Nürnberg an die Wand gespielt hatte (gleichwohl ohne zu gewinnen) brutal enttäuscht. Denn sie zerfiel in Elversberg in kürzester Zeit in ihre Einzelteile. Die Schrecken der Bundesliga, sie folgten den 98ern auch in die 2. Liga. Dem SVD wollte einfach kein Turnaround gelingen. Der schon in der Bundesliga vermisste Flow, er war im Unterhaus ebenfalls auf Tauchstation gegangen. Die Lilien brauchten etwas, das Lieberknecht ihnen nicht mehr glaubte geben zu können. Die Vereinsspitze sah das ähnlich. So trennten sich am 1. September 2023 die Wege eines Trainers und eines Vereins, die lange wie Arsch und Eimer auf- und zueinander passten. Als Mensch ist Torsten Lieberknecht unersetzlich. Die Mehrzahl der Fans wird ihn jedenfalls in bester Erinnerung behalten. Mille grazie, Torsten!

Parallelen in Lieberknechts und Kohfeldts Karrieren

In seine Fußstapfen tritt nun Florian Kohfeldt. Ein Trainer, der gewisse Parallelen zu Lieberknechts Karriere aufweist. Beide stiegen als junge Trainer zum Chefcoach auf und überzeugten in Braunschweig beziehungsweise Bremen mit Identifikation und Ergebnissen. Beiden wurde nach langjährigem Wirken ein Abstieg mit ihren Herzensvereinen zum Verhängnis. Beide fanden bei ihrer nächsten Station kein Glück. Lieberknecht stieg mit Duisburg in die 3. Liga ab, wo ihm der Wiederaufstieg nicht gelang. Auch Kohfeldt blieben in Wolfsburg und später im belgischen Eupen sportliche Erfolge verwehrt. Beide schienen aus dem Blickfeld der ersten beiden Bundesligen geraten zu sein. Beide bekamen recht überraschend die Gelegenheit, bei Darmstadt 98 zu zeigen, dass sie es besser können. Und beide freuten sich sehr darüber, fortan in einem familiären und traditionsreichen Umfeld am Bölle arbeiten zu dürfen. Lieberknecht ist das zwei Spielzeiten lang beeindruckend gelungen und er dürfte wieder für andere Klubs interessant geworden sein. Kohfeldt wird nun gefordert sein, es ihm gleichzutun. Denn sein Image in Fußball-Deutschland ist inzwischen das eines hochgeflogenen Jungcoaches, der tief gefallen ist. Der Esprit, den er anfänglich bei Werder Bremen versprühte, kam ihm irgendwie abhanden. Nun ist es an dem 41-Jährigen, den Lilien eine Struktur und eine Stabilität zu geben, die sie aus dem Gröbsten heraushält.

Kohfeldt entscheidet, ob der Blick nach vorne geht

Wie bei Lieberknecht wird die Klubspitze geduldig mit ihm sein. Das hat Präsident Rüdiger Fritsch bekräftigt. Alles andere wäre eine Abkehr von der eigenen Überzeugung, die für Fritsch darin besteht, Kontinuität und Stabilität auf dem Trainerposten zu haben. Kohfeldt sollte diesen Vertrauensvorschuss nutzen. Denn sollten die Lilien im weiteren Saisonverlauf im Tabellenkeller stecken bleiben, dann könnten selbst am so unaufgeregten Fußballstandort Darmstadt die üblichen Gesetze der Branche greifen. Und dann wird auch der Wunsch von Fritsch nicht zu halten sein: „Lasst uns das Zurückblicken beenden. Das tut dem Verein nicht gut. Wir sollten viel eher nach vorne schauen.“ Das Wirken von Kohfeldt entscheidet darüber, ob man am Saisonende tatsächlich nach vorne blicken wird.

 

In etwas ruhigeres Fahrwasser, please!

Fr, 4.10., 18.30 Uhr: Karlsruher SC – SV Darmstadt 98

Fr, 18.10., 18.30 Uhr: SV Darmstadt 98 – 1. FC Köln

So, 27.10., 13.30 Uhr: SV Darmstadt 98 – SSV Ulm 1846

Mi, 30.10., 20.45 Uhr (DFB-Pokal, 2. Runde): Dynamo Dresden – SV Darmstadt 98

sv98.de

 

Matthias und der Kickschuh

Seit Ende 2011 schreibt Kickschuh-Blogger Matthias „Matze“ Kneifl über seine große Leidenschaft: den Fußball. Gerne greift er dabei besonders abseitige Geschichten auf. Kein Wunder also, dass der studierte Historiker und Redakteur zu Drittligazeiten begann, über die Lilien zu recherchieren und zu schreiben. Ein Resultat: das Taschenbuch „111 Gründe, den SV Darmstadt 98 zu lieben“, das (auch in einer erweiterten Neuauflage 2019) im Schwarzkopf & Schwarzkopf Verlag erschienen ist. Zudem führt er seit einigen Jahren Interviews für den „Lilienkurier“. Genau der richtige Mann also für unsere „Unter Pappeln“-Rubrik!

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