Der jüngste sportliche Erfolg des SV Darmstadt 98 fußt nicht zuletzt auf nachhaltigem Wirken. Seit Carsten Wehlmann vor etwas mehr als vier Jahren die sportlichen Geschicke am Böllenfalltor übernahm, ging es für die 98er Schritt für Schritt bergauf. Und das, obwohl sie gewiss nicht über die meisten finanziellen Mittel verfügten. Beim Umbau des Böllenfalltors setzten und setzen die Lilien ebenfalls auf Nachhaltigkeit.
Knapp 18.000 Zuschauer:innen werden künftig Bundesliga-Fußball am Böllenfalltor erleben. Wer als Fan von Mainz 05, Eintracht Frankfurt oder Borussia Dortmund beim letzten Bundesliga-Abenteuer des SVD in Darmstadt zu Gast war, der wird die runderneuerte Heimstätte der Lilien nicht wiedererkennen. Insbesondere die imposante Haupt- und die Gegentribüne stechen sofort ins Auge. Für die umfangreichen Baumaßnahmen der letzten Jahre zeichnete das Büro „1100: Architekten“ verantwortlich. Federführender Projektleiter war Gunter Weyrich, der Leiter des Frankfurter Büros. Der bekennende Lilienfan geht regelmäßig zu den Spielen ans Bölle. Im Gespräch erläutert er gerne, wie wichtig dem Verein nachhaltige Aspekte beim Errichten der neuen Tribünen waren. Gemeinsam mit seinem Team – Philipp Venema, Larissa Fahl, Patrick Klügel und Angel Illescas – arbeitete er sehr intensiv an diesen Themen.
Standort als Nachhaltigkeitsvorteil
Bevor Weyrich ins Detail geht, macht er jedoch gleich zu Beginn den in seinen Augen wichtigsten Aspekt klar: „In puncto Nachhaltigkeit ist es gar nicht zu toppen, dass der Verein mit seinem Stadion nun schon seit über 100 Jahren am gleichen Ort ist.“ Denn schließlich sei ein Gebäude, das gar nicht an einer neuen Stelle gebaut werden muss, letztlich das, was am meisten Energie spare. Die 98er waren also auf kein Stadion an einem neuen Standort mitsamt der dafür notwendigen Infrastruktur angewiesen. An der Nieder-Ramstädter Straße war der ÖPNV, den viele Fans gerne in Anspruch nehmen, bereits da. Viele greifen zudem aufs Rad zurück oder pilgern zu Fuß ans Bölle, was bei einem Standort außerhalb der Stadt deutlich weniger attraktiv wäre. Auch die „Lilienschänke“ ist als beliebter Fan-Treffpunkt etabliert und musste nicht erst anderswo aufgebaut, geschweige denn von den Fans dann auch angenommen werden.
Das alte Bölle lebt im neuen fort
Hinzu kommt: Teile des alten Bölle leben auch im neuen fort. In erster Linie natürlich die vier Flutlichtmasten, die weiterhin über dem Stadion thronen, und die wesentlich zur Beleuchtung beitragen. Daneben ruht die moderne Haupttribüne gewissermaßen auf den Resten ihres Vorgängers und auch der ehemaligen Gegengeraden: Um den Boden für den Bau der Haupttribüne vorzubereiten, wurde Tragmaterial genutzt, das aus den klein gebrochenen Stufen der Gegengerade und der alten Haupttribüne gewonnen wurde. Zudem ist der in der alten Haupttribüne verbaute Stahl für andere Zwecke recycelt worden.
Auch bei Strom und Wärme setzen die 98er nachhaltige Akzente. Um die Räumlichkeiten der Haupttribüne in der kalten Jahreszeit auf Temperaturen zu bringen, nutzt der Klub Fernwärme. Auch das benachbarte Funktionsgebäude, in dem unter anderem die Geschäftsstelle untergebracht ist, wird auf diese Weise beheizt. Deren Glasfassade sorgt zudem dafür, dass der Tageslichtanteil in ihm sehr hoch ist. So lässt sich der Energieverbrauch durch elektrische Beleuchtungen reduzieren.
Die Sonne scheint
Darüber hinaus wird seit Ende Juni sowohl auf der Haupt- wie auch auf der Gegentribüne eine Photovoltaikanlage mit insgesamt 2.900 Solarmodulen errichtet, die summa summarum fast so groß wie die Rasenfläche im Bölle ist und über eine Leistung von bis zu 1,2 Megawatt verfügt. Mit der von der Entega-Tochter „Natur pur“ gepachteten Anlage ist der SVD in der Lage, während der Spieltage auf selbst gewonnene, umweltschonende Energie zurückzugreifen und wird nach Entega-Angaben über 40 Prozent des Strombedarfs im Stadion abdecken. An anderen Tagen können Überschüsse wiederum ins Stromnetz eingespeist werden, sodass auch andere Stromkund:innen vom Solarstrom profitieren, den die 98er am Böllenfalltor gewinnen. Zudem plant die Entega für die PV-Anlage im Stadion eine Beteiligungsmöglichkeit, bei der Bürger:innen Geld zweckgebunden anlegen können. Die Bürger:innenbeteiligung soll nach Angaben des Versorgungsunternehmens im vierten Quartal 2023 beginnen.
Und wenn es einmal regnet, hat sich der Verein zusammen mit dem Team von Gunter Weyrich etwas einfallen lassen, damit der Natur kein Tropfen Wasser verloren geht: „Das gesamte Regenwasser führen wir hinter der Gegengeraden zusammen, wo es durch ein Rigolensystem zeitversetzt in den Boden sickert und dem Grundwasser zugeführt wird“, so Weyrich. Das Regenwasser für die Bewässerung des Rasens am Bölle zu verwenden, wurde geprüft, dann aber verworfen, da mögliche Verunreinigungen nicht gänzlich auszuschließen waren. Zudem laufen Zisternen just in der warmen Jahreszeit, wenn der Bedarf am höchsten ist, aufgrund geringerer Niederschläge rasch leer.
Weniger dem Gedanken der Nachhaltigkeit als ästhetischen Gesichtspunkten folgte das Vorhaben, großzügige Glaselemente in die Tribünen der beiden Geraden zu integrieren. Der beabsichtigte Effekt: Die Dächer wären auf diese Weise förmlich über den Tribünen geschwebt. Die Idee musste jedoch bei der Gegengerade kassiert werden, da auf die europaweite Ausschreibung nur ein Unternehmen ein Angebot abgab. Weil der aufgerufene Preis aber nicht zum Budget passte, galt es, den Entwurf zu vereinfachen. Statt Glas prangen heute die auf Blech gesprayten Schriftzüge „Böllenfalltor“ unter dem Dach der Gegengerade und „Darmstadt“ im obersten Teil der Haupttribüne.
Ein inklusiver Aspekt konnte dahingegen wie geplant aufgegriffen werden: Rollstuhlfahrende und ihre Begleiter:innen gelangen am neuen Bölle – von Parkplatz, ÖPNV und den Toiletten – ebenerdig und über kurze Wege auf die Terrasse der Haupttribüne und haben von dort einen guten Überblick über das sehr nahe Geschehen auf dem Rasen. Auch die Gästefans verfügen über eine eigene Rollstuhl-Terrasse.
Und die Dugena-Uhr … ?
Und dann wäre da schließlich noch die Dugena-Uhr, die endlich ihren Platz im neuen Bölle bekommen soll. „Das Thema ist definitiv weiterhin auf der Agenda und wir haben – gemeinsam mit dem Verein – eine schöne Idee“, so Weyrich. In Kürze werde es dazu mehr zu berichten geben. Für viele Lilienfans wäre das neben der sinnvoll gelebten Nachhaltigkeit am neuen Bölle so etwas wie die Kirsche auf der Sahnetorte des 50 Millionen Euro teuren Stadionumbaus.
„Chic, aber kein Schickimicki!“
Zur nachhaltigen Finanzierung des Profifußballs am Böllenfalltor soll auch der Business- und Logenbereich der Haupttribüne beitragen, der seit Mitte März 2023 voll genutzt wird – und bislang stets ausverkauft war. Das Bölle verfügt mit ihm über eine Gesamtkapazität von 17.810 Plätzen (8.678 Sitzplätze, 9.132 Stehplätze). Auf der neuen Haupttribüne gibt es 2.982 Plätze, davon 1.532 öffentliche Plätze, 1.030 Business-Sitze, 264 Logenplätze (verteilt auf 20 Logen) und 106 Rollstuhlplätze mit Begleitpersonen. 50 weitere Sitzplätze sind für die Presse vorgesehen.
Im Inneren des VIP-Bereichs im Erdgeschoss dominieren rund um die zentrale Bar in luftiger Holzstrebenoptik die Vereinsfarben blau und weiß. Lounge-Möblierung trifft auf gerahmte Lilien-Trikots und geplottete Fotografien von 98er-Legenden und Schlüsselmomenten der Vereinsgeschichte. „Chic, aber kein Schickimicki!“, attestierte der scheidende Darmstädter Oberbürgermeister Jochen Partsch bei der Einweihung recht treffend.
Vorfreude auf die „Bundesligaaaaaaa“!
Sa, 8.7., 15.30 Uhr (Testspiel): SG Bad König/Zell – SV Darmstadt 98
Mi, 12.7., 18.30 Uhr (Testspiel): SV Darmstadt 98 – Norwich City
So, 16.7., 16 Uhr (Testspiel): FC Gießen – SV Darmstadt 98
Sa, 22.7., 15.30 Uhr (Testspiel): Karlsruher SC – SV Darmstadt 98
Sa, 29.7., 15.30 Uhr (Testspiel): SV Sandhausen – SV Darmstadt 98
Fr, 11.8., bis Mo, 14.8. (DFB-Pokal, 1. Runde): FC 08 Homburg – SV Darmstadt 98
Saisonstart 2023/24 mit dem SV Darmstadt 98 in der 1. Bundesliga ist am Fr, 18.8. (bis So, 20.8.).
Aktuelle Spieltermine: sv98.de
Matthias und der Kickschuh
Seit Ende 2011 schreibt Kickschuh-Blogger Matthias „Matze“ Kneifl über seine große Leidenschaft: den Fußball. Gerne greift er dabei besonders abseitige Geschichten auf. Kein Wunder also, dass der studierte Historiker und Redakteur zu Drittligazeiten begann, über die Lilien zu recherchieren und zu schreiben. Ein Resultat: das Taschenbuch „111 Gründe, den SV Darmstadt 98 zu lieben“, das (auch in einer erweiterten Neuauflage 2019) im Schwarzkopf & Schwarzkopf Verlag erschienen ist. Seit Juli 2016 begleitet Matthias gemeinsam mit vier Mitstreitern die Lilien im Podcast „Hoch & Weit“. Genau der richtige Mann also für unsere „Unter Pappeln“-Rubrik!