Grafik: Rocky Beach Studio
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Paul hat Recht behalten. Nach 18 Jahren wird in Darmstadt wieder professionell Fußball gespielt. La-Ola-Wellen schwappten durchs Böllenfalltorstadion, Sven Söklers Kunstschuss zum 3:0 gegen Memmingen, der den Aufstieg in die Dritte Liga besiegelte, wurde für das „Tor des Monats“ nominiert. Und ein Großteil der von Glück berauschten 17.000 Zuschauer stürmte bei Abpfiff den Platz. Ein lange nicht für möglich gehaltener Traum aller „Lilien“-Fans wurde am 28. Mai 2011 wahr. Und gleichzeitig, wie so oft nach Spielabpfiff oder „Lilien“-Tor, ein Albtraum für musikalische Fans.

Was macht es für einen Sinn, nach (besonders volkstümlichen?) Toren den „Zillertaler Hochzeitsmarsch“ durch die Boxen des „Bölle“ zu jagen. Oder BallermannHits, die seelenlos sind wie das Stadion von Wehen-Wiesbaden. „So schön kann Fußball sein“ von Jürgen Drews begeistert vielleicht fußballaffine Senioren im „ZDF Fernsehgarten“, aber doch keinen „Lilien“-Fan mit nur einem Hauch von Musikgeschmack.

Es gibt ja durchaus Songs, die mehr „Lilien“-Fans mitnehmen würden. Weil sie einen Bezug zum SV 98m haben und damit Identität stiften. So ist es kein Zufall, dass „Tor! Lilien vor!“ von Alberto Colucci gerade ein lautstarkes Comeback feiert – und das ganze Stadion singt mit. „Europapokal (SV 98 immer Eu-ro-pa-pokal)“ von Milton Fisher beschreibt den Gefühlszustand vieler „Lilien“-Fans in den vergangenen 18 Jahren … irgendwo zwischen Selbstironie und Träumerei, läuft aber heute nicht mehr im Darmstädter Stadion.

Dass das kraftvolle „Allez les bleus“ von Decubitus nicht mehr am „Bölle“ gespielt wird, weil eine Textzeile „der hr3 kriecht permanent den Offenbachern in den Arsch“ lautet, ist zwar PR-technisch nachvollziehbar. Aber könnte man den sehr verehrten Damen und Herren vom Hessischen Rundfunk nicht vorab erklären, dass dieser Text schon etwas älter ist – und nicht vom Präsidium des SV 98 verfasst wurde, sondern von punkrockenden „Lilien“-Fans mit über Jahre angestauter OFC-Antipathie? Vielleicht sind die Leute vom HR-Fernsehen ja gar nicht so humorlos.

Einigen Stadionbesuchern ist es wahrscheinlich (paprika-)wurscht, was für Musik beim Kick der geliebten Mannschaft durchs Darmstädter Stadionrund schallt. Doch mindestens genau so vielen ist es nicht egal, welche Begleitumstände beim Spiel der „Lilien“ herrschen. Eben jene Leute haben unter anderem dafür gesorgt, dass in Darmstadt nie Gefahr bestand, dass die Fanszene von rechten Brandstiftern unterwandert werden konnte (wie bei anderen Vereinen geschehen). Und jene Leute waren es, die dem SV Darmstadt 98 in den vergangenen 18 Jahren auch die Treue hielten, als fußballerische Hausmannskost und Abstiegskrampf am Böllenfalltor regierten.

Den Verantwortlichen der „Lilien“ scheint nicht bewusst zu sein, dass es für viele Fans so etwas wie „Stadionkultur“ gibt. Sie können ja mal einen der vielen „Groundhopper“ fragen – Fußballverrückte, die durch ganz Europa reisen, um unter anderem am charmant heruntergekommen „Bölle“ ursprünglichen, noch nicht vollends durchkommerzialisierten Fußball zu erleben. Selbst die Hits vom Ballermann haben sie davon nicht abgehalten.