Er wird einfach gedankenlos durch den Park Rosenhöhe traben und dem Seitersweg folgen, ohne sich großartige Gedanken darüber zu machen, dass dieser Name anno dazumals den Flurnamen „Im Seiter“ bezeichnet hat, seitlich der Dieburger Straße nämlich, oder dass der Seiterswiesenschleifweg früher eben kein echter, sondern ein „Schleifweg“ oder auch Trampelpfad war, der nur nach der Ernte begehbar war.
Viel eher wird er seine gesamte Konzentration darauf verwenden, sich zwischen den jungen Familien mit Kinderwagen, den lustwandelnden Rentnern, den stockschwingenden Walkerinnen, zwischen den schnellen Mountainbikes und den langsamen Hollandrädern seinen Weg zu bahnen. Können die sich nicht in die Getreidefelder links und rechts verziehen und den schmalen Weg freimachen? Natürlich werden die anderen Oberfeld-Verkehrsteilnehmer das Gleiche auch von ihm denken, aber man wird den Groll gedanklich beiseite schieben und sich freundlich zunicken, denn das Wetter ist ja super und das Oberfeld für alle da.
Wenn er Luft für mehr als eine halbe Stunde hat, wird er am Ende der freien Fläche noch eine kleine Runde im Wald anschließen, ohne zu ahnen, dass der Judenpfad, den er nun entlang hechelt, einen antisemitischen historischen Namen trägt, da diese Umgehung der Fall- beziehungsweise Zolltore einstmals Schmuggler benutzt haben sollen und der gemeine Volksmund diese Tätigkeit wie so manches andere Übel einfach mal ungeprüft „den Juden“ in die Schuhe geschoben hat. Dass sich noch niemand über eine Namensänderung Gedanken gemacht hat …?! Vermutlich wird er sich aber, zumindest falls es langsam zu dämmern beginnt, eher fragen, ob die Geräusche aus dem Gebüsch von Wildschweinen erzeugt werden und ob diese ihm wohlgesonnen sind.
Solcherart angespornt, wird er sich eilen, wieder auf den Scheftsheimer Weg und damit zurück auf das Oberfeld zu kommen, vorbei an ein paar am Waldrand ausgestellten Skulptürchen und den Resten einer vor ein paar Jahren abgebrannten Scheune. Er wird vielleicht zur Kenntnis nehmen, dass die dort abgestellten Kraftwagen größtenteils den Marken Mercedes Benz, Audi und Porsche zugehörig sind, vielleicht auch, dass die K-und-K- (Kinderwagen- und Kombi-) Dichte zunimmt. Unter Umständen wunderte er sich, wenn er hier schon seit Längerem liefe, kurz, dass und warum dies doch früher nicht so war.
Er wird jedoch nicht bemerken, dass die Kinderwagen-Karawane zum Hofgut Oberfeld zieht, der südlichen Begrenzung des Feldes in der Erbacher Straße. Und dass diese Karawane das erst tut, seit die Stiftung gleichen Namens 2006 mit dem Geld der Software-AG-Stiftung die gemeinnützige Wiederbelebung des ehemaligen Landwirtschaftsbetriebes angeleiert hat und nun so einiges betreibt: ökologische Landwirtschaft, Lernort Bauernhof, demnächst auch das Zusammenleben von Behinderten und Nicht-Behinderten im Projekt Lebensweg. Er wird sich nur über den Auflauf wundern und aufpassen, dass er nicht über eines der vielen Dreiräder der herumvagabundierenden Dreijährigen stolpert.
Abschließend wird er einen kräftezehrenden Endspurt über die unebenen, aufgeplatzten Trottoirs der Erbacher Straße hinlegen, vorbei an dem Gebrauchtwagenhandel mit den metallic-lackiertesten BMWs Darmstadts, vorbei auch an der schönen Wohnstätte der zu Unrecht fast vergessenen Top-Schriftstellerin Gabriele Wohmann, deren Kurzgeschichten er in der Schule immer gern gelesen hat, und schließlich am Ostbahnhof mit dem immer noch maroden Hauptgebäude ankommen.
Vermutlich wird er am Ende gar nicht mal so kaputt, sondern erstaunlich erholt sein. Er, der das Oberfeld – dieses Ausflugsziel, das im Osten Darmstadts direkt an die Rosenhöhe grenzt – an einem schönen Aprilsonntag zu seiner Joggingstrecke erkoren hat. Und ihm ist es vermutlich fast schon egal, dass diese weite, herrlich sonnendurchflutete Fläche einst im Mittelalter gemeinsam mit nur zwei anderen Arealen die Ernährung der gesamten Darmstädter Stadtbevölkerung ermöglicht hat.