Die Mathildenhöhe soll Weltkulturerbe werden. Seit 2006 agiert Ralf Beil als Direktor des dort angesiedelten, gleichnamigen Instituts. Er spricht gern vom „Kristallisationsort künstlerischer Gegenwart“ und „von der Energie des Utopischen“. Die weltweit wahrgenommenen Ausstellungen unter seiner Ägide beweisen das nachhaltig. Wir wollten mehr erfahren über den Mann, der der Mathildenhöhe nicht nur bildlich zur neuen Blüte verhalf, sondern auch gern eine bildhafte Sprache verwendet. Verständlich und faszinierend – auch für jemanden, der nicht so kunstbeflissen ist. Und er sparte nicht mit Kritik an den Verhältnissen. Ein eindrückliches Gespräch, das mit seiner interessanten Vita beginnt.
1965 geboren in der Stadt Kobe in Japan. Wie kam das zustande?
Beil: Meine Eltern arbeiteten damals in Japan in der Textilbranche. Anfang der 1960er Jahre war Deutschland noch sehr kleinbürgerlich und meine Eltern wollten einfach weg. In Japan lebten wir, bis mein Zwillingsbruder und ich vier Jahre alt waren. Ich habe an die Zeit nur noch wenige Erinnerungssplitter … an Reisfelder oder die Kälte am Fujiayma. Danach kamen zwei Jahre in Hong Kong mit markanteren Details: unser Wohnturm mit Blick auf die Boatpeople in der Bucht, tosende Taifune … die erste Liebe.
Schon im Alter von fünf, sechs Jahren in Hong Kong? Wow!
B [schmunzelt]: Oh ja, es ging früh los bei mir … aber ich denke, das interessiert die Leser nicht wirklich.
Da wäre ich mir nicht so sicher.
Jedenfalls ging es 1971 zurück nach Deutschland, für kurze Zeit auch in die Nähe von Darmstadt nach Großostheim, dann in den Norden – hin und her. Zeit- und Raumwechsel haben mich schon früh geprägt. Ich habe vieles eher intuitiv wahrgenommen. [sinniert] Den Nebel, Dauerregen, die nahe Zonengrenze. Komisch, alles eher dunkle Erinnerungen. Dabei bin ich eindeutig ein Sonnenmensch. [blickt auf und rückt seinen Stuhl aus dem Schatten]
Wann erfolgte der Schritt Richtung Kunst? Durch das Studium?
Eigentlich komme ich vom Wort: Germanistik und Philosophie. Erst in Paris kam Kunstgeschichte als Hauptfach dazu. Ich habe als Kunstkritiker für Zeitungen und Magazine geschrieben und ging dann als Ausstellungskurator in die Schweiz. Zwischenzeitlich kam noch meine Promotion mit dem Thema „Künstlerküche – Lebensmittel als Kunstmaterial“. Dieses Thema hat mich immer interessiert: die Verknüpfung von realem Leben und Kunst. Es war für mich auch der Königsweg, um große Künstler wie Marcel Duchamp, Salvador Dalí, Meret Oppenheim oder Dieter Roth richtig zu verstehen.
Wie kamen Sie dann 2006 nach Darmstadt?
Ich konnte damals in der Schweiz zwar mit wunderbaren Sammlungen arbeiten, aber insbesondere das Waadtland ist schon so etwas wie das Tal der Ahnungslosen. Irgendwann will man da weg. Ich hatte mir vorher einige Orte angesehen, aber erst Darmstadt war so, dass ich sagte, hier kann man was machen. Die mediale Vernetzung ist hier eine ganz andere, man wird ganz anders wahrgenommen. Der Ort ist einfach stark. Und die Mathildenhöhe erst recht.
Aber vielen gilt Darmstadt ja eher als provinziell?
Es gibt die klugen Sätze „Provinz findet in den Köpfen statt“ und „Der Kopf ist rund, damit das Denken die Richtung wechseln kann“. Wenn man mit den beiden Aussagen arbeitet, ist Provinz immer woanders. Die Mathildenhöhe ist in ihrer Pracht ja alleine schon als Geste markant. Gerade der Hochzeitsturm von Olbrich mit seiner hochgestreckten Hand. Wir leben in einer ironisch-zynischen Zeit, vieles ist entzaubert. Aber hier existiert noch ein gesunder Pathos, Dinge sind noch etwas wert. Da gibt es etwas, für das es sich lohnt zu arbeiten, man kann noch etwas verändern.
Eine sehr bildliche Sichtweise. Sie arbeiten ja auch immer gerne mit Metaebenen und Zwischenzeilen bei Ihren Ausstellungen.
Man kann eine Ausstellung ganz unterschiedlich erleben. Rein auf Grundlage der Dinge – oder aber viel tiefergehender. Kunst hat den großen Vorteil, dass es eine Verdichtung von vielen fundamentalen Fragen ist. Kunst tätigt Aussagen über uns und die Welt. Diese Botschaften sind bei mir im Kopf, aber sie sollten eben auch beim Besucher ausgelöst werden. Man kann damit spielen wie bei einem Text mit Subtexten. In der aktuellen Ausstellung gibt es zum Beispiel zahlreiche Echo-Situationen über alle Epochen hinweg.
Verstehen das auch alle Besucher?
Für mich ist Kunst Hauptspeise und nicht Dessert. Eine schnelle Stunde und dann ein Stück Kuchen im Café hinterher reicht nicht, um Kunst zu verstehen. Ich will die Leute eigentlich ein bisschen zwingen anhand eines Parcours. [schmunzelt] Das klingt fast schon diktatorisch, aber man muss Gedanken und Bewegungen kanalisieren. Wir haben leere Räume, die wir füllen können, für das Bewusste, aber auch das Unbewusste. Die Drei-Dimensionalität des Raumes, Enge und Weite, die materielle Sinnlichkeit der Werke, die Wandfarben: All das ist wichtig dafür. Ich will die Orte immer komplett bespielen. Ich kam hier damals an und man erzählte mir ganz beiläufig vom Wasserreservoir. Dabei ist der Ort so faszinierend! Ich habe ihn dann gleich bei meiner ersten Ausstellung eingesetzt.
Sie nehmen sich immer viel vor. Manchmal auch zu viel?
Ich habe einen sehr aufregenden Arbeitsplatz, bei dem sich keine Routine einschleicht, weil ich immer wieder auf unvorhergesehene Dinge reagieren muss. Es gibt einen Grundplan, aber jeder Tag ist anders. Während eine Ausstellung läuft, werden die nächsten – wie jetzt die Büchner-Ausstellung – ja schon intensiv vorbereitet. Ich komme mir immer vor wie ein chinesischer Tellerdreher, der zehn Teller gleichzeitig auf Stangen jongliert. Und keiner darf runterfallen. Irgendwann ist manchmal schon ein Punkt erreicht, wo ich sage, so geht es nicht mehr. Bei der aktuellen Ausstellung gab es im Vorfeld extrem viele Komplikationen, zum Beispiel mit Leihgebern und Musikrechten. [schüttelt den Kopf und rückt seinen Stuhl wieder in die Sonne.]
P [die Situation aufgreifend]: Es ist also nicht immer alles eitel Sonnenschein?
B [schnauft]: Leider nein, es tauchen auch Probleme innerhalb Darmstadts auf. Man könnte viel mehr machen und vernetzen. Aber man merkt dann, dass vieles einzeln getaktet ist. Ich versuche ja immer, alle mit ins Boot zu nehmen. Aber wenn es dann zu anstrengend wird, muss ich nach sechs Jahren manchmal erkennen, dass nicht überall die Bereitschaft da ist. Die eher triste Rheinstraße wäre zum Beispiel eine wunderbare Kulturwerbemeile. Sie ist das entscheidende Einfallstor nach Darmstadt und es wäre wie in Mannheim oder in Genf ideal, wenn man anhand von großen Plakaten oder Bannern sofort erfährt, was passiert in dieser Stadt, auf der Mathildenhöhe, im Staatstheater, im Jazzinstitut, in der Centralstation. In diesem Sommer könnte man auf die Ferienkurse für Neue Musik, auf den Cage-Bahnhof, auf „A House Full of Music“ und vieles mehr hinweisen. Das lädt die Leute ein. Ich fände das einen wunderbaren Service, weil man sieht, hier passiert eben doch was, die Stadt hebt die Kultur auf ihr Schild. Seit 2006 weise ich darauf hin. Aber nichts hat sich bisher bewegt.
Mit welcher Begründung wird das bisher abgelehnt?
Ach, da fällt immer was anderes an. Mal sind es die Werbeverträge mit Monopolisten, mal die Zuständigkeiten für Laternenmasten. Man müsste das einfach mal übergeordnet durchziehen. Aber die Ämter bedienen leider oftmals nur ihre Partikularinteressen. Wenn wir es selbst machen dürften, hätten wir ohne viel Aufwand schon längst Plakatträger schweißen lassen und aufgehängt. Auch hier auf der Mathildenhöhe gibt es für das Gelände und die Häuser so viele unterschiedliche Ämter-Zuständigkeiten. Oder wenn es um die sinnvolle Verkehrsführung von Buslinien geht. Das ist ganz schön anstrengend. Mit gesundem Menschenverstand wäre viel mehr möglich in dieser Stadt, aber meist sind die Wege zu lang. [… holt tief Luft …] Darmstadt steht in einer großen Architektur-Tradition. Menschen wie Olbrich haben hier für das Leben gearbeitet und damit große Kunst geschaffen. Wenn ich aber diese neuen Reihenhaussiedlungen in der ehemaligen Ernst-Ludwig-Kaserne sehe, das ist architektonisch ganz schlimm. Mir wird immer gesagt, Sachzwänge seien Schuld. Mir kann keiner erzählen, dass das nicht anders ginge. Es gibt keine Sachzwänge, es gibt nur Menschen, die etwas verhindern oder etwas ermöglichen. [lächelt] Oje, das soll jetzt hier aber kein Meckerkasten über die Stadt werden.
P [grinst]: Zu spät. Ist es denn ein grundsätzliches Darmstadt-Problem?
Jein. Wir haben es immerhin geschafft, dass in der Warteschleife der Stadt Darmstadt die „Erinnerungsmusik von Tunis“ von Paul Klee läuft. Schon Musik in der Warteschleife kann anregend sein, wenn sie durchdacht ist. Positiv gewendet kann man auch sagen, dass in einer größeren Stadt wie Frankfurt noch weniger möglichwäre. Da sind die Konkurrenzverhältnisse viel größer. Diese wunderbaren Zusammenarbeiten bei den verschiedenen Ausstellungen mit anderen Institutionen klappen hier viel schneller und einfacher. Wenn man wie ich an Kunst im klassischen Sinne, aber auch an Film, Musik oder Literatur interessiert ist, ist das ein Eldorado hier.
Die Ausstellungen der Mathildenhöhe sorgen ja mittlerweile weltweit für Aufsehen. Wie ist das alles finanzierbar?
Das ist immer mehr ein großes Problem, gerade auch was Stellenbesetzungen innerhalb des Hauses angeht. Seit es den „Kulturfonds Frankfurt RheinMain“ gibt, sind aber zumindest die Ausstellungen meist gesichert. Das ist ein Glücksfall.
Und die Kulturpolitik in dieser Stadt? Zwischenzeitlich war ja die Diskussionskultur um das Museum Sander etwas merkwürdig?
Für mich war das ein großes Problem. Ich konnte da nicht immer so agieren, wie ich wollte. Mir waren teilweise die Hände gebunden. Bevor Entscheidungen im Magistrat gefällt wurden, hätte man mal die Fachleute fragen können. Es fehlte die Transparenz. Sicher auch einer der Gründe für den späteren Wahlausgang.
Wie sieht es beim Thema „Museum Sander“ aktuell aus?
Wenn jetzt etwas geschieht, geschieht es auf Augenhöhe. Und das ist gut so.
Danke für das Interview (auf Augenhöhe).
Zwanzig Minuten waren zugesagt, anderthalb Stunden wurden es. Wir hätten glatt eine Sonderausgabe mit Ralf Beil machen können. Die „Energie des Utopischen“ fließt auch durch seine Adern. Und man spürt, dass durch ihn zumindest kleine Utopien Wirklichkeit werden können. Wir wünschen es ihm – und der Stadt Darmstadt.