„Darmstadt war bis vor zehn Jahren ein provinzielles Nest!“ Sowas muss man hier in dieser Gazette, anderenorts und -zeits lesen. Gott sei Dank stammt diese Aussage nicht von Herrn Sabais, Ernst Elias Niebergall oder Jacques Tati – alles Leute, die sich sogar erlauben könnten, dies zu behaupten, es aber nie getan hätten. Ich nehme eine solche Interview-Überschrift übel, die besagt, bis ins Jahr 2000 in einem Nest gelebt haben zu sollen, nur weil es im schönen Darmstadt damals keine Partyinfrastruktur wie im Mangaviertel Tokyos gab.
Es reicht nicht, das Ansteigen der Caféhausdichte sowie die immense Menge an Eintragungen auf tagestippenden Homepages vorzubringen. Damals, während der Nestzeit, der provinziellen, hatten wir Bundesligafußball, Doppelnächte in Pali und Helia, die Mathildenhöhe voller feiernder junger Menschen, Dreharbeiten für tolle TV-Mehrteiler, Hunderte Kneipen und vor allem: Grillplätze! Was haben wir früher für feine Gelage veranstaltet, am Birkenwasser, Bismarckturm und besonders aufm Dachsberg, bevor der gesperrt wurde wegen angeblichem Gasaustritt.
Heute, wo wir so toll sind und nicht mehr provinziell, weil keiner mehr selbst nachdenken muss, wie er sich und seinen Freunden am heutigen Tag einen lustigen daraus macht, und vor allem den Abend nicht mehr selbst zu gestalten hat. Heute schaut der In-Stadtbürger im Netz nach, wo all die Anderen hingehen … und da geht er dann auch hin. Großartig – großstädtisch! Die Kneipen sterben, jeden Tag eine, und neue Einweggeschäfte mit der Haltbarkeit einer geöffneten Pelati-Dose ziehen in die Räume ein, in denen Generationen von Heinern Pause vom Alltag machten – sich nicht bewusst, dass jüngere Vögel sie im nächsten Jahrtausend als Nestbewohner von gestern titulieren würden.