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Grafik: Albert Speer & Partner

Elf Milliönchen für das Aufhübschen einer altehrwürdigen Diva von Stadion? Ist das schlau? Das fragen sich Journalisten und Lilien-Fans, seitdem ein etwas zerknirscht dreinblickender Oberbürgermeister Jochen Partsch und ein erkennbar enttäuschter Lilien-Präsident Rüdiger Fritsch am 07.07. um kurz nach halb zehn Uhr morgens verkündeten, dass die Neubaupläne für das Städtische Stadion am Böllenfalltor ruhen müssen. Sie wären baurechtlich nicht durchsetzbar. Stattdessen wird das alte Bölle nun modernisiert, damit es etwas komfortabler wird und künftigen Auflagen der Deutschen Fußball Liga (DFL) entspricht.

Zerknirschung und Enttäuschung sind mittlerweile einer gespannten Erwartung gewichen: Wie werden die zwei neuen Stahlrohrtribünen die Stimmung im Stadiongeviert verändern? Wird die Gegengerade tatsächlich einmal überdacht? Was verändert sich noch? Und wann? Das P fragte Klaus Drach, Geschäftsführer der Darmstädter Sportstätten GmbH (DSG) und auch künftig Hausherr, sowie Sven Kling, der das Projekt als Architekt im Dezernat III der Stadt Darmstadt maßgeblich begleitet.

Finanzierung „weitestgehend safe“

Bis zum Saisonstart 2018/19 soll die Stadion-Modernisierung abgeschlossen sein. Begonnen hat sie bereits. Etwa 10,7 Millionen Euro wird sie verschlingen, so die Planungen. Sie sollen nahezu komplett aus bereits zugesagten Zuschüssen des Landes Hessen finanziert werden. Aber waren die nicht für einen echten Neubau – der rund 35 Millionen Euro gekostet hätte – erteilt worden? „Die 10,5 Millionen Euro aus dem Landesausgleich-Stock sind nicht zwingend zweckgebunden“, erklärt Klaus Drach. „Hier sind wir also weitestgehend safe.“ Auf weitere 3,5 Millionen Euro, die die Stadt „zur Förderung herausragender Sportstätten“ vom Land erhalten soll, möchte der DSG-Geschäftsführer für die Modernisierung aber nicht spekulieren.

Kapazität wird auf 17.400 Plätze erhöht, 10.000 davon sind überdacht

Das Fassungsvermögen des Böllenfalltorstadions von aktuell rund 17.000 Zuschauern wird sich im modernisierten Bölle – mit zwei noch zu errichtenden Stahlrohrtribünen hinter den Toren – um 400 Plätze erhöhen. Sicher ist auch, dass das „neue Bölle“ mehr Sitzplätze beherbergen wird. Denn die Stahlrohrtribüne auf der Nordseite des Stadions, Richtung Hochschulstadion, wird 2.812 zusätzliche überdachte Sitzplätze bieten. Aktuell stehen in der Nordkurve 2.750 Fans – manchmal eben auch im Regen. Ebenfalls überdacht sein werden die laut Planung etwa 3.698 Stehplätze für die Fans auf der neuen Südtribüne. Aktuell stehen 3.000 Fans in der Südkurve. Die Lilien-Fans aus dem F-Block der Haupttribüne ziehen auf diese Stahlrohrtribüne Süd um und machen ihre Sitzplätze frei, tauschen diese praktisch gegen Stehplätze. Von Vereinsseite wird signalisiert, dass es dafür eine Ausgleichszahlung pro Ticket geben wird. Den Stehplatz-Dauerkarteninhabern auf der Nordtribüne (Saison 2016/17) wird wahrscheinlich angeboten, auf Sitzplätze upzugraden oder auf Südtribünen-Stehplätze umzubuchen. Wenn die Stahlrohrtribünen denn mal stehen.

Stahlrohrtribünen-Bau im Oktober und November

Die Baugenehmigung für die modularen Bauwerke wurde – wie von der Stadt angekündigt – am 19.08. erteilt. Bis zum ersten Heimspiel gegen Eintracht Frankfurt am 10.09. werden die Stahlrohrtribünen aber dennoch nicht stehen. „Es ist ein diffiziler Prozess mit vielen Beteiligten“, erklärt Michael Weilguny, Geschäftsführer des SV Darmstadt 98, die Verzögerung. Unter anderem müssen Bodengutachten eingeholt werden und die Statik berechnet werden. Das alles kostet Zeit. In Abstimmung mit der DFL hat man nach Zeitfenstern im Saison-Spielplan gesucht, in denen die beiden Tribünen errichtet werden können. Da sich durch Länderspiele diesen Herbst/Winter in Darmstadt Heimspielpausen von jeweils nur drei Wochen ergeben, kann in diesen Pausen jeweils nur eine Tribüne gebaut werden. Die Südtribüne wird in der Heimspielpause vom 02. bis 21.10. errichtet, die Nordtribüne vom 30.10. bis 18.11. (notfalls in der Winterpause).

Notwendige Zwischenlösung?

Für Oberbürgermeister Jochen Partsch ist die Stadion-Modernisierung „eine notwendige Investition“, die weiterhin Bundesliga am Bölle ermögliche. Stadionmanager Klaus Drach möchte die Modernisierung nutzen, „um aufzuräumen und dabei den Charme des Standorts sauber herauszuarbeiten.“ Er sieht das Projekt als eine „mittelfristige, sehr gute Überbrückung“. Lilien-Präsident Rüdiger Fritsch betrachtet die Pläne eher als „akzeptable Zwischenlösung“, einen zeitnahen Stadion-Neubau an einem anderen Standort würde er nun präferieren. „Wir haben einen guten Plan A durch einen nicht so guten Plan B getauscht. Das müssen wir nun so lange ertragen, bis ein Alternativprojekt umgesetzt wird. Aus Sicht des Vereins ist es existenziell, daran weiter zu arbeiten“, erklärte der Lilien-Präsident. Dies sei „kein Schrei nach Luxus“, sondern „ein Schrei nach Standard“, der für den Verein überlebenswichtig sei. Zumindest, wenn die Lilien weiterhin erst- oder zweitklassig spielen und den immer weiter steigenden Anforderungen der DFL gerecht werden wollen.

 

Die Modernisierung des „Bölle“ – das sind die einzelnen Maßnahmen, ihre Kosten und der Zeitplan

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Grafik: Albert Speer & Partner

Stahlrohrtribünen hinter den Toren

Die am schnellsten sichtbare Veränderung sind die zwei angesprochenen Stahlrohrtribünen. Sie werden direkt hinter den beiden Toren errichtet, stehen also vor, teilweise auf der jetzigen Süd- und Nordkurve. Die überdachten temporären Bauwerke – Süd: nur Stehplätze, Nord: nur Sitzplätze – werden von einem Spezialisten, der Nüssli GmbH, errichtet. Das Schweizer Unternehmen ist ein Global Player in Sachen temporärem und modularem Bauen. Nüssli konstruierte schon für die Formel 1, die Olympischen Spiele, den Davis Cup, Biathlon Weltcup, den Eurovision Song Contest – und eine Stahlrohr-Aufstockung für das Estadio de Bata in Äquatorialguinea, das 2012 zu den Austragungsorten für die Endrunde des Africa Cup of Nations zählte. Auch das bei vielen Fans als „Blechbüchse“ verschriene Stadion des SV Wehen Wiesbaden wurde von Nüssli erbaut – komplett aus Stahlrohr-Elementen, in einer Rekord-Bauzeit von 112 Tagen.

Die zwei Stahlrohrtribünen in Darmstadt werden jeweils 72,50 Meter breit, 18,50 Meter tief und rund 10 Meter hoch sein. Auf der Sitztribüne wird aktuell mit 22 Reihen geplant. Auf die Tribünen gelangen die Besucher über vier (Nord) beziehungsweise fünf (Süd) rückseitige Zugänge, die nach innen ganz oben hinaufführen und die Besucher von dort verteilen. Von den ursprünglich geplanten Zugängen über sogenannte Mundlöcher wurde Abstand genommen.

Beide Tribünen werden zwar als „fliegende Bauten“ eingestuft, „um sie zu errichten, braucht es dennoch eine klassische Baugenehmigung“, erklärt Architekt Sven Kling. Die LED-Anzeigentafel, die hinter der neuen Stahlrohrtribüne stehen und verdeckt würde, soll in die Südwest-Ecke des Stadions umziehen, zwischen Haupt- und der neuen Fan-Tribüne. Unterhalb der Anzeigentafel soll Bezahlsender Sky temporär ein gläsernes TV-Studio aufbauen können. Daraus blickt der Fernsehzuschauer dann auf die knackevolle Gegengerade – ein repräsentativer Blick ins altehrwürdige Bölle.

Kosten: 1,5 Millionen Euro für die Stadt, 1,5 Millionen Euro für die Lilien. Die Stahlrohrtribünen werden angemietet, die Miete (3 Millionen Euro für drei Jahre) reinholen muss zur Hälfte der Verein durch höhere Ticket- und VIP-Einnahmen.

Zeitpunkt: Mitte Oktober (Süd-Tribüne) beziehungsweise Mitte November (Nord-Tribüne)

 

csm_Tribuenenbild-HP_cbdf5ec53a 2 Die neuen Stahlrohrtribünen (Illustration, keine detaillierte Darstellung) | Grafik: La Mina

 

Sanierung und Modernisierung der Haupttribüne

Auch sie läuft in mehr oder weniger kleinen Teilen schon. Wenn auch eher im Verborgenen. Im Innern der Haupttribüne werden Räume für das Trainerteam neu geordnet (größeres Büro, eigene Umkleide). Der Bereich der Spieler und medizinischen Abteilung wurde umgestaltet und deutlich aufgewertet. Zudem wird der Presseraum saniert, Türen nach neuesten Brandschutz-Richtlinien werden eingesetzt und neue Wasserleitungen verlegt. Die gesamte Wasserzufuhr zum Areal, das auch die neuen Trainingsplätze einschließt, wird neu installiert. Auch der Wasserdruck – zum Beispiel in den Duschen – wird damit modernen Standards gerecht werden. Laut Architekt Sven Kling werden außerdem „Dach und Fassade angefasst“, also saniert und neu gestaltet. Welche Materialien und Farben verwendet werden, stehe aktuell noch nicht fest. Und auch die Diskussion über neue Sitzschalen sei noch nicht entschieden.

Projektkosten: 1,5 Millionen Euro

Zeitpunkt: hat bereits begonnen, bis zum Saisonbeginn 2018/19 abgeschlossen

 

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Grafik: Albert Speer & Partner

Neuordnung des Stadion-Vorplatzes

Die Fläche zwischen Haupttribüne und Böllenfalltorhalle soll nachhaltig neu gestaltet werden. Neue Kioske aus offenen Container-Modulen aus Stahl werden aufgestellt, ebenso modulare Toiletten. Sie könnten auch bei einem Stadion-Neubau an einem anderen Standort wiederverwendet werden. Die Anzahl der Kioske wie der Toiletten wird alle aktuellen Vorgaben der Versammlungsstättenverordnung erfüllen.

Projektkosten (Planung plus Baukosten): 0,5 Millionen Euro

Zeitpunkt: genauer Beginn noch nicht terminierbar, bis zum Saisonbeginn 2018/19 abgeschlossen

 

Neubau Funktionsgebäude und Ertüchtigung der Böllenfalltorhalle

Der dickste Brocken der Modernisierungsmaßnahmen. Der jetzige Vorbau der Böllenfalltorhalle mit seinen maroden Umkleideräumen und Duschen wird abgerissen und durch ein neues, elegant drangeflantschtes Funktionsgebäude ersetzt. Über zwei Stockwerke entstehen insgesamt 2.000 Quadratmeter Nutzfläche. Im Erdgeschoss: Foyer, moderne Umkleideräume und Sanitärbereiche für Schulsport und die Vereine, die die Böllenfalltorhalle für Unterricht und Übungsstunden nutzen. Im oberen Geschoss können sich modulierbare Räume (VIP-Bereich bei Heimspielen, Fläche für Sportkurse) ausbreiten, hinzu kommen Büros der Darmstädter Sportstätten GmbH und des SV Darmstadt 98 (zur Miete). Außerdem soll der Lilien-Fanshop noch in dem Bau untergebracht werden. „Der Inhalt des Gebäudes ist im Planungsmodus“, erklärt Architekt Sven Kling.

Projektkosten: 5,5 Millionen Euro

Zeitpunkt: genauer Beginn noch nicht terminierbar, bis zum Saisonbeginn 2018/19 abgeschlossen

 

Restrukturierung der Gegengerade

Die gute Nachricht für alle Stadionromantiker: Bölle bleibt – und die Gegengerade auch! Der imposante Darmstädter Stehplatz-Hügel ist nach der „Gelben Wand“ im Dortmunder Stadion die zweitgrößte Stehtribüne Deutschlands und wurde auf dem Kriegsschutt der 1944 zerbombten Stadt gebaut. Im Rahmen der Bölle-Modernisierung wird die Gegengerade in drei Blöcke unterteilt, die jeweils über einfache Treppen auf der Rückseite des Hangs erklommen werden. Zudem soll die obere Hälfte überdacht werden, um künftigen Anforderungen der DFL zu genügen. „Die gesamte Fläche zu überdachen, wird aus statischen Gründen zu kompliziert“, erklärt Architekt Kling. Nach Bodenuntersuchungen Anfang August ergänzt er: „Durch die festgestellte Beschaffenheit des Bodens ist nun klar: Es ist extrem unwahrscheinlich, dass die Gegengerade überhaupt überdacht wird.“

Projektkosten: 1 Million Euro

Zeitpunkt: voraussichtlich im Sommer 2017 (während der Spielpause), spätestens bis zum Saisonbeginn 2018/19 abgeschlossen

 

Infrastruktur und weitere Maßnahmen

Wie bereits angerissen, bekommt das gesamte Areal rund ums Böllenfalltorstadion eine neue Wasserzuleitung. Kosten alleine dafür: rund 200.000 Euro. „Eine lebenserhaltende Maßnahme“, findet Architekt Sven Kling und deutet Probleme mit dem Wasserdruck am jetzigen Bölle an. Außerdem solle das Flutlicht verstärkt und der Parkplatz neu geordnet werden, unter anderem sind mehr Fahrrad-Stellplätze in Planung.

Projektkosten: 1,5 bis 2 Millionen Euro

Zeitpunkt: bis zum Saisonbeginn 2018/19

 

Weitere mehr als 50 Artikel zum SV Darmstadt 98 in der Rubrik „Unter Pappeln“ unter: https://www.p-stadtkultur.de/rubriken/unter-pappeln/

 



 

„Hoch & weit“: Unterhaltsamer wie informativer Lilien-Podcast

Der sehr geschätzte Kollege Matze Kneifl (vom Lilien-affinen Kickschuh-Blog) hat mit weiteren kompetenten und meinungsfreudigen Fans einen Podcast ins Leben gerufen, in dem regelmäßig über den SV Darmstadt 98, neue Spieler, das neue Stadion und die neue Saison sinniert und diskutiert wird. Der Podcast „Hoch & weit“ ist abrufbar über www.kickschuh.wordpress.com.

 



 

„Nie mehr Zweite Liga!“ reloaded

So, 21.08., 15.30 Uhr (DFB-Pokal, 1. Runde): Bremer SV 06– SVD

Sa, 27.08., 15.30 Uhr (Bundesliga-Auftakt): 1. FC Köln – SVD

Sa, 10.09., 15.30 Uhr: SVD – Eintracht Frankfurt

Sa, 17.09., 15.30 Uhr: Borussia Dortmund – SVD

Di, 20.09., 20 Uhr: SVD – TSG Hoffenheim

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